Aggressives Knistern, das klingt, als spiele man mit dem Audiokabel eines Verstärkes, verbindet sich mit der Beharrlichkeit tinnitusartiger Impulse: Der Auftritt des Brasilianers André Damião entpuppte sich als Symphonie aus Störgeräuschen, die sich in ihren statischen Verdichtungen ab und an dem puren Rauschen annäherte. Damião war Teilnehmer eines international ausgerichteten „live.code.festivals“ des Instituts für Musikwissenschaft/Musikinformatik der Hochschule für Musik Karlsruhe, das sich in Konzerten, einem Symposium sowie einer Clubnacht der Programmierung von Klängen in Echtzeit widmete – Bestandsaufnahme einer jungen, (noch) überschaubaren Szene, die stetig wächst. Das Festival zeigte vor allem in seinen Konzerten: Ästhetisch sowie handwerklich ist Live-Coding ein dehnbarer Begriff.
SuperCollider, Pure Data, Max/MSP, Impromptu: die Musikprogrammiersprachen, die für Live-Coding verwendet werden, sind vielzählig – vorausgesetzt, es ist überhaupt ein Computer an der Klangerzeugung beteiligt. Der Amerikaner Charles Céleste Hutchins beispielsweise balancierte mit seiner Darbietung am Rande des Live-Coding-Begriffs: Blaue und rote Kabel locker um den Hals gelegt, verband er analog die Klangmodule eines Synthesizers, die auch ein Live-Coder auf seinem Computer hat, und machte die Vorgänge entsprechend des zentralen Manifests der Live-Coding-Organisation TOPLAP „Show us your Screens“ via Kamera auf großer Leinwand sichtbar.
Dementsprechend weit erstreckte sich das musikalische Klangfeld, auf dem sich die Teilnehmer in den Konzerten bewegten – wobei sich jedoch eine ohrfällige Tendenz abzeichnete: Es dominierte vor allem Noise, auch Damião und Hutchins sind diesem zuzuordnen. „Für ungeübte Ohren war das hart und sicher schwer zu differenzieren, was nun das Interessante daran ist. Ich habe mich immer gefragt: Was würde meine Mutter wohl davon halten? Die hätte das nicht ausgehalten“, sagte Patrick Borgeat, Teil des Organisationsteams. Dabei kann Noise, wie bei Damião, ästhetisch äußerst reizvoll sein – innerhalb des kulturellen Undergrounds gilt er als eigene Kunstsparte. Viel problematischer wirkte die mangelnde formale Gestaltung mancher Improvisationen, was gerade Außenstehenden den Zugang erschwert haben dürfte. In diesem Kontext fiel das Ensemble BEER aus Großbritannien auf, deren Beitrag einer klangbreiartigen Masse glich, ohne Kontur, dramatischer bzw. dynamischer Entwicklung. Dazu kam die fehlende visuelle Transparenz: Sie verzichteten auf eine Leinwand-Projektion ihrer Bildschirme, die zumindest gezeigt hätte, was sie gerade tun.
Dass Live-Coding nicht derart konturlos sein muss, zeigte vor allem die Karlsruher Laptop-Band „Benoît and the Mandelbrots“: Aus der Stille des Konzertraums zogen dumpfe Klangschwaden auf, scheppernde Rhythmen durchbrachen alsbald das verschwommene Bild. Stringent wandelte sich die weit aufgespannte Klangfläche, mal griffen sandkornartige, mal sirenenhafte Impulse um sich – alles war stets im Wandel begriffen. Jeder der Vier schien das Bewusstsein verinnerlicht zu haben, dass musikalische Improvisation nach Gestaltung sowohl der Mikro- als auch Makrostruktur verlangt.
Zwei der „Mandelbrots“ hatten vor zwei Jahren die Idee zum Live-Code-Festival: Hauptorganisator Juan A. Romero und Patrick Borgeat kuratierten das Festival ab Oktober letzten Jahres gemeinsam mit Institutsleiter Thomas A. Troge, welcher der Idee zugleich offen zugestimmt hatte. Die Bewerbungen kamen aus der ganzen Welt, das international aufgestellte Review Board sprach seine Empfehlungen aus: Live-Coder aus Australien, Nordamerika, Kolumbien, Großbritannien oder Japan wurden am Ende eingeladen, darunter viele zentrale Personen der Szene, wie Nick Collins, Andrew Sorensen oder Fredrik Olofsson.
So traf in den drei Tagen eine über das Internet gut vernetze Szene aufeinander – zuletzt geschah dies 2012 in Mexiko. „Die eine Sache ist Videos der Künstler anzuschauen, die andere sie live zu erleben. Auch bei der International Computer Music Conference (ICMC) gab es letztes Jahr Paper-Sessions mit Live-Coding, die beliefen sich aber auf drei Beiträge“, erklärte Juan A. Romero und betonte damit die Wichtigkeit eines solchen Festivals für diese spezielle Sparte der Computermusik. Für Außenstehende waren die drei Tage ein erfrischender Trip durch das Universum algorithmischer Live-Komposition, das immer wieder aufs Neue im Moment ersteht. Zu erleben war auch eine freundliche, familiär wirkende Gemeinschaft in Feriencamp-Stimmung, die fern jegliche Konkurrenzdrucks einen durchaus kritischen Diskurs über Gegenwart und Zukunft des Live-Codings suchte.