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Hans-Werner Henze in den Achtziger-Jahren. Foto: Felicitas Timpe
Hans-Werner Henze in den Achtziger-Jahren. Foto: Felicitas Timpe
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Alle kreativen Kräfte eingesammelt

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Landesmusikakademie NRW wird mit Henzes „Pollicino“ zur Opernarena
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Die bundesdeutschen Landesmusikakademien sind für ihr besonderes Ambiente, sehr gute räumliche Bedingungen und eine inspirierende Atmosphäre, welche ein künstlerisch-kreatives Tun nahezu automatisch zulässt, bekannt. Leider haben auch sie es zu Zeiten, in denen die Mittel und Zuschüsse für Fort- und Weiterbildungsangebote zunehmend rarer werden, nicht leicht. In Anbetracht dieser Situation erscheint es um so bemerkenswerter, wenn sich die dort „beheimateten“ Fort- und Weiterbildner zusammenschließen und „ihre“ Akademie mit einem Großprojekt der außerschulischen Musikvermittlung für kurze Zeit in ein Opernhaus für Jung und Alt verwandeln.

Gute Musik für Kinder ist vor allem eins: nicht Kinder-tümelnd.“ Diese Definition – zugegebenermaßen eine von vielen – stammt von Ernst Leopold Schmid, dem Direktor der Landesmusikakademie Nordrhein-Westfalen in Heek-Nienborg bei Ahaus. Und er hat auch gleich das passende Beispiel parat: Hans Werner Henzes „Pollicino“. Henze selbst nennt das Stück, das in keine Schublade passt, „Märchen für Musik“. Letztendlich ist es eine Oper, aber ohne Vorbilder und – bislang – ohne nennenswerte Nachahmer.

Schmid weiß, wovon er spricht, denn er hat die Arbeiten daran und seine Uraufführung 1980 im italienischen Montepulciano vor Ort miterlebt. Im Jahr 2005 produzierte er das Stück mit großem Aufwand an der Landesmusikakademie Heek und führte es insgesamt acht Mal in der Region auf. Mit immensem Erfolg.

Die Idee für dieses Projekt kam von der Choralsingschule Gütersloh. Ihr Leiter Sigmund Bothmann ist seit Jahren in der Chorleiterausbildung an der Landesmusikakademie tätig. Obwohl er mit seiner Einrichtung, die die Nachwuchsabteilung des Bachchores Gütersloh ist, über die personellen Ressourcen verfügt, war auch ihm klar, dass sich ein solches Projekt nur als Kooperation mit mehreren Institutionen verwirklichen lassen würde. Der Schritt auf die Landesmusikakademie zu, die ohnehin die Musikaktivitäten im Westmünsterland bündeln kann, war zwangsläufig. Und in Akademieleiter Schmid fand er einen ohnehin begeisterten Kooperationspartner.

Die Geschichte haben Henze und sein Librettist Giuseppe di Leva aus mehreren europäischen Märchen zusammengestellt. Pollicino, der älteste und cleverste von sieben Brüdern, bewahrt seine Geschwister vor dem Hungertod, weil die Eltern kein Geld haben, und vor dem Bratpfannentod durch den Menschenfresser Fürchterlich.

Allein auf dem Papier sind die Anforderungen immens. Henze hatte für die Besetzung die Kräfte der Musikschule in Montepulciano als Maßstab, heute sorgen unter anderem die vorgeschriebenen zwölf Blockflöten zunächst für Schweiß auf der Stirn der Organisatoren. Auch die Kinderhauptrollen sind nichts für sängerische Anfänger. In Zeiten der fehlenden Musikalisierung von Kindern ein nicht leicht zu überwindendes Hindernis. Obwohl Henzes Ursprungskonzept die Erarbeitung des Werkes vereinfachen wollte, denn Henze benutzte die Kräfte, die ihm in Montepulciano zur Verfügung standen. Er kombiniert in seinem Ensemble und Orchester professionelle Kräfte und Amateure. Die wichtigsten Posten im Orchester – erste Geige, Klavier, Gitarre – müssen von Profis besetzt werden, der Rest ist von fortgeschrittenen Musikschülern zu bewältigen.

Also sammelte Schmid die kreativen Kräfte. Die Blockflöten- und die Schlagwerkgruppe kamen von der Westfälischen Schule für Musik in Münster, die Streichpsalterien von der Musikschule für den Kreis Gütersloh. Die Streicher waren freie Musiker aus dem gesamten Kreis, und die musikalische Leitung oblag Joachim Harder, Professor für Orchesterleitung an der Musikhochschule Detmold und Leiter des Studentenorchesters Münster. Der hatte unter seinen ehemaligen Studenten in Detmold auch den Pianisten und den Organisten gefunden.

Auch auf der Bühne gilt die Profi-Laien-Kombination: Die Rollen der Eltern und des Menschenfresser-Paares sind für Opernsängern geschrieben, Pollicino und seine spätere Freundin Clotilde müssen gut ausgebildete Kinder sein. Die Geschwister und alle anderen Gesangsrollen – insgesamt um die 25 – sind von ausgebildeten Laien zu bewältigen.
Die Produktion der Landesmusikakademie steigerte den Aufwand sogar noch. Alle Rollen, auch die der Erwachsenen, wurden doppelt besetzt. Das reduziert die Belastung der einzelnen Darsteller, vervielfacht aber die Probenarbeit. Insgesamt ein Jahr liefen die Gesangsproben, drei Monate nahmen sich die Organisatoren im Vorfeld Zeit, die richtigen Darsteller auszusuchen. Dabei stellten die musikalischen Probenleiter Sigmund Bothmann, Bettina Pieck und Ernst Leopold Schmid Erstaunliches fest: Der Name Hans Werner Henze verunsicherte die Kinder überhaupt nicht. Die geistigen Schranken, hinter die zeitgenössische Musik immer gesteckt wird, existieren nur in den Köpfen Erwachsener.

Aber das deckt sich mit der Erfahrung aus einer anderen Richtung, die die Probenleiter gemacht haben. Bothmann: „Man muss Kindern etwas bieten, man muss sie fördern und fordern.“ Musikalisch gibt es fast nichts, was Kinder nicht zu leisten im Stande sind. Jungs im Alter zwischen elf und dreizehn tun sich zwar schwerer als gleichaltrige Mädchen – Singen gilt nicht als „cool“ –, das Ergebnis beeindruckt die Mitschüler aber doch. Und nicht nur die. Ein weiteres Phänomen deckte Regisseur Michael Hoffmann auf: Erst im Verlauf des Probenjahres lernten die Kinder, gleichzeitig zu singen und zu spielen. Diese doppelte geistige Leistung ist offensichtlich nicht selbstverständlich.

Man kann es fast schon Feldzug nennen, was Schmid mit dieser Produktion erreichen möchte. Er moniert – zu Recht – den permanenten Ausfall von Musikunterricht an Grund- und weiterführenden Schulen, die in musikalischen Dingen immer weniger ausgebildeten Erzieherinnen in Kindergärten und die daraus resultierende allmählich abnehmende Fähigkeit der Kinder zu singen. So lobenswert das „Pollicino“-Projekt jedoch auch war, Nachahmer dürften sich nur wenige finden. Zu hoch sind die Ansprüche an die Ausführenden und die Vorgaben des Komponisten. Kaum eine Schule kann in ihrem dünn besetzten Orchester – wenn überhaupt vorhanden – die von Henze geforderten zwölf Blockflöten, vier Schlagzeuger und vier extrem seltene Streichpsalterien vorweisen, geschweige denn die Fachkräfte für die stimmliche Vorbereitung der Sänger aufbringen. Das geht nur über Kooperationen. Da nutzt man lieber das, was man hat, mit den Fähigkeiten, die man vorfindet, und schneidert sich die Bühnenmusik auf den eigenen Leib. Das Ergebnis mag dann eine Art Schulmusical sein, das möglicherweise dem Vergleich mit anderen Bühnenwerken für Kinder nicht standhält. Aber man bringt immerhin eine größere Gruppe Kinder mit Musik und Bühne in Kontakt. Das spart nicht zuletzt auch die für allgemein bildende und vermehrt auch Musikschulen nahezu unbezahlbaren Kosten für die Aufführungsrechte.

Ein derartig singuläres Projekt wie der „Pollicino“ kann aus sich selbst heraus diese Missstände auch nicht beheben, weiß Schmid durchaus. Aber für ihn ist der „Pollicino“ beispielgebend für das, was Kinderoper in dieser Zeit sein kann und sein soll. Er möchte dieses Projekt demzufolge auch als Ermutigung und Aufforderung für Komponisten verstanden wissen, für das Genre Kinderoper zu komponieren. Der Aufwand lohnt sich, möchte Schmid beweisen. Auch, weil optimale Musikvermittlung im Idealfall nur über das Zusammentreffen von Laien und Profis, von Kindern und Erwachsenen funktioniert. Einen Nachahmer hat er trotz aller Schwierigkeiten schon gefunden: Die Musikschule in Neuss fühlt sich inspiriert, das Stück selbst auf die Bühne zu bringen.

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