Dass ein Saal von beträchtlicher Größe an einem sommerlichen Samstagmorgen um elf zum Bersten voll ist, weil ein Werk zeitgenössischer Musik vorgestellt und in Auszügen angespielt wird – seine eigentliche Aufführung findet an einem anderen Tag statt – kann man als relativ ungewöhnlich bezeichnen. Umso mehr, wenn es sich dabei nicht bloß um angereistes Fachpublikum handelt, sondern vorwiegend um bunt gemischtes, lokales Publikum – zu einem großen Teil Gasteltern der Akademisten aus diesem Jahr und den vergangenen. Die Veranstaltungen der Reihe „Forum“ beim Lucerne Festival sind ein rares Beispiel von Vermittlung, die effektiv das Publikum erreicht, das sie ansprechen möchte. Nebst der Ausbildung erstklassiger Interpreten Neuer Musik ist auch dies in der Idee der Lucerne Festival Academy angelegt, die Pierre Boulez und Festivalintendant Michael Haefliger umgesetzt und durch nunmehr neun Jahre zur Nachhaltigkeit weiterentwickelt haben.
Wirklich lohnend ist da etwa Wolfgang Ratherts Einführung in den wundersamen Kosmos des Komponisten Charles Ives und in sein Opus Summum, die Vierte Symphonie, die bei ihrer partiellen Uraufführung 1927 in New York vor allem auf Irritation und Ratlosigkeit stieß und auch späteren Generationen Rätsel aufgab. Obwohl schon fast hundert Jahre alt, wirkt das Werk auch heute noch undurchdringbar und keineswegs alt. Nicht umsonst soll Strawinsky von Ives gesagt haben, er habe den Kuchen aufgegessen, bevor sich die anderen überhaupt an den Tisch gesetzt haben. Dass das Werk sehr selten gespielt wird, ist nebst seiner irren Komplexität nicht zuletzt dem desolaten Zustand geschuldet, in dem sich Partitur und Stimmen bisher befanden. Mit der jüngst erschienenen kritischen Neuedition inklusive benutzerfreundlicher Aufführungspartitur, die im Meisterkurs Dirigieren unter Peter Eötvös’ Leitung erarbeitet wurde und die das Lucerne Festival Academy Orchestra zum weltweit ersten Mal spielt, wird es um Ives’ Vierte bald nicht mehr so still sein.
Mit der Aussage „Ungenauigkeit ist manchmal ein Zeichen von Nähe zur absoluten Wahrheit“ offenbarte Ives ein musikalisches Credo, mit dem er zu Anfang des 20. Jahrhunderts seiner Zeit hoffnungslos voraus war. Ratherts Einblicke in Ives’ Biographie und Denken beleuchten nicht nur seinen einzigartigen Schichtungsstil, sondern auch die musikalischen Quellen, die von amerikanischem Hymnengut über Blaskapellenrepertoire bis hin zu Kompositionen aus der eigenen Vergangenheit reichen. Diese Musiken als Material für einen übergeordneten Prozess zu erkennen, nämlich die Ergründung grundlegender Fragen des Seins, die Ives der Symphonie zugrunde gelegt hat, ist der entscheidende Schlüssel zum Verständnis dieses exzentrischen, lang verkannten Komponisten und seiner Symphonie, die aufzuführen so exorbitant ist, dass es gleich mehrerer Dirigenten bedarf. Die musikalischen Schichten im „Forum“ einmal einzeln zu hören, vermittelt zwar nicht die Quintessenz dieser Musik, in deren Konstrukt die einzelnen Melodiestränge meist absichtlich nur noch ansatzweise erkennbar sind, doch verschafft sie dem Publikum eine einzigartige Erfahrung mit dem Werk, die der eines Musikers bei der Probenarbeit gleichkommt und eine Art persönlicher Nähe zum Material erlaubt.
Das Modell „Forum“ zeigt sehr deutlich, dass es durchaus ohne den grassierenden Musikvermittlungskindergarten geht, wenn denn eine unbedingte Voraussetzung erfüllt ist: Man möchte aus direktester Quelle angesprochen sein, sei es durch Pierre Boulez oder seine Kollegen am Pult, den Komponisten des Werks selbst oder einen Experten auf dem Feld. In Luzern ist diese Voraussetzung immer erfüllt. Und obschon die Erläuterungen stets qualifiziert und authentisch sind, haben sie hier einen erfrischenden Impromptu-Charakter, der mit dem meist noch unfertigen Stadium der Probenarbeit Hand in Hand geht. Die jungen Musiker spielen in legerer Haltung und Kleidung, kommen meist von einer anderen Probe und eilen danach gleich zur nächsten. Mit einem sommerlichen Ferienkurs hat die Academy gewiss wenig gemein. Im Gegenteil, die Studenten erbringen drei Wochen lang Hochleis-tung bis zum Anschlag. Dass sich das hie und da auch bei den Aufführungen der erarbeiteten Werke bemerkbar macht, ist verständlich und entschuldbar, wäre freilich mit einer Reduktion des gigantischen Pensums bestimmt auch vermeidbar.
Musik nicht nur diffus auf sich wirken zu lassen, sondern sie auch zu verstehen, sie in ihrem Wesen zu erkennen, ist für Pierre Boulez und seine Academy-Mitstreiter eine Grundvoraussetzung des Musizierens, die sie den Teilnehmern der Lucerne Festival Academy jeden Sommer nahe bringen. Mit der Reihe „Forum“ lässt das Festival auch die Hörer an diesem Erkenntnisvorgang teilhaben. Die Academy ist in diesem Sinne nicht nur ein Geschenk an die jungen Musiker aus aller Welt, sondern gleichermaßen an das lokale Publikum. Der enge Kontakt der Gasteltern und ihrem Umfeld zu den Musikern, die bei ihnen zu Hause wohnen, mit ihnen essen und bei ihnen ihre Stimmen üben, lässt diese Musik Teil ihres Lebens werden und lässt sie die Werke im Konzert schließlich vertrauter hören. Das Unnahbarkeits-Stigma der Neuen Musik könnte nicht wirksamer entkräftet werden. Und wer dieses Erlebnis einmal gemacht hat, lässt es meist nicht damit bewenden. Das erklärt wohl auch, warum aus dem breiten Publikum, das den großen Saal des KKL bei den Konzerten der Lucerne Festival Academy füllt, gewiss einige dieses Erlebnis dem Traditionsrepertoire der prestigereichen Symphoniekonzerte des Festivals vorziehen.
Video-Tipp:
- www.nmz.de/media – Stichwort: Lucerne Festival Academy