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Stefan Vinke, hier als Siegfried, in der Ring-Version des RSB. Am Pult: Heiko Mathias Förster. Foto: Kai Bienert
Stefan Vinke, hier als Siegfried, in der Ring-Version des RSB. Am Pult: Heiko Mathias Förster. Foto: Kai Bienert
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Begegnung mit einer Urmutter der Fantasyliteratur

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Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin präsentiert Wagners „Ring des Nibelungen“ als Familienkonzert
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Große Oper für kleine Leute – Wagners „Ring“ in 100 Minuten. Kann das funktionieren? Für das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) ist es nur eine logische Konsequenz, Wagners monumentales Werk in einer Fassung für junges Publikum zu produzieren. Hat das Orchester doch in den Jahren 2010 bis 2013 Wagners zehn große Opern unter Marek Janowski konzertant auf die Bühne gebracht.

Es waren umjubelte Aufführungen, ein Highlight für Wagnerianer. Nun will das Orchester also seinem Bildungsauftrag folgen und den Ring auch der nachwachsenden Generation von Musikhörern nahebringen. Eine Herausforderung, nicht nur der Länge des Werks wegen – immerhin handelt es sich im Original um 14 Stunden Musik. Einen Bezug von der sagenhaften Geschichte um Macht und Betrug, Verrat und Inzest, Gold und Mord zur Lebenswelt der Kinder herzustellen, scheint auf den ersten Blick nahezu unmöglich.

„Wie möchtet ihr leben, wenn ihr einmal erwachsen seid? Was sind eure Lebensziele?“, fragt die Opernpädagogin Iris Winkler in ihren vorbereitenden Workshops, die im Februar an Berliner Grundschulen stattfinden. Die Sechstklässler nennen einen Lebenspartner und Familie auf der einen Seite, den Wunsch nach einem großen Auto und einem guten Job, mit dem man viel Geld verdient, auf der anderen. Und schon ist man mitten drin in der Frage nach „Macht oder Liebe?“. Was würde ich opfern für die Macht, wie würde ich mit ihr umgehen? Der sagenhafte Ring, würde ich überhaupt Herr über ihn sein wollen? Würde ich mit der Tarnkappe eine Bank überfallen oder würde ich sie für den Notfall aufbewahren? Nicht nur an der Diskussion um Macht, Reichtum und persönliche Verantwortung beteiligen sich die zwölfjährigen Schüler engagiert, auch der Geschichte um den Weg des Rings lauschen sie fasziniert, schließlich haben Fantasy-Romane bei Jugendlichen zur Zeit wieder Hochkonjunktur. Dass sich in Büchern und Filmen magische Wesen, Zauberer und Halbgötter tummeln, ist schon beinahe selbstverständlich. Aber dass sich die Nibelungensage nicht einfach in die Reihe dieser Fantasiegeschichten einreiht, sondern sozusagen eine der „Urmütter“ vieler moderner Bestseller ist, diese Erkenntnis beeindruckt dann doch: „Das ist ja wie beim Herr der Ringe!“, platzt einer der Schüler heraus. Die Story ist also hochaktuell – bleibt noch die Musik. 100 Minuten Wagner, kann man damit tatsächlich Teenager hinter dem Ofen hervorlocken?

Am Sonntagvormittag Anfang April sitze ich also im Atze-Musiktheater, begleitet von einem Vertreter der Zielgruppe, einem pubertierenden 14-Jährigen, der sich nur mit sanftem Zwang zum Konzertbesuch bewegen ließ. (Sonntag um 11? Ich will ausschlafen!) Insgesamt bunt gemischt ist das Publikum, das die Aufführung sehen und hören will. Auch zahlreiche gar nicht so junge Leute sind zum „Ring in 100 Minuten“ gekommen; die angekündigte Einsteiger-Version des Werks zieht das Publikum so sehr an, dass nur noch vereinzelt freie Plätze zu finden sind. Die Aufgabe, das Werk sinnvoll zu kürzen und auch die musikalische Leitung der Produktion hat wieder Heiko Mathias Förster übernommen, der schon beim „Fliegenden Holländer“ für Familien am Pult des RSB stand. Beim Betrachten der Bühne fällt ins Auge, dass die Fläche zum größten Teil durch das Orchester gefüllt wird, das trotz der etwas reduzierten Besetzung in der Neufassung von Aurélien Bello noch von beeindruckender Größe ist. Vorne ist ein Bühnenstreifen frei geblieben, der bespielt werden kann, hinter dem Orchester befindet sich ein weiteres Bühnenpodest vor einer großen Leinwand. Bunte Tücher sind an der Decke gespannt, die mit Hilfe der Lichtregie eine geheimnisvolle Atmosphäre zaubern. Nicht nur für die Inszenierung und die Ausstattung, sondern auch für die Texte zeichnet Jasmin Solfaghari verantwortlich. Sie übernahm auch schon die Inszenierung bei der Koproduktion des „Ring für Kinder“ in Bayreuth und Leipzig, die für die RSB-Fassung als Orientierung diente.

Und dann geht es los. Erster Auftritt: Herr Luna, ganz in Gelb, launig gespielt von Peter Pruchniewitz. Bei der Begrüßung „Kinder, Kinder, das war eine lange Reise!“, verzieht der Pubertist neben mir noch das Gesicht. Keine Kindertümelei, bitte! Nach einer kurzen Erläuterung seiner etwas konstruierten Rolle – als heimlicher Opernliebhaber schleicht sich Herr Luna als Zaungast in die Opernhäuser – beginnt das Wesentliche: die Musik! Unmittelbar zieht sie die Zuhörer in ihren Sog, der Gesichtsausdruck meines jungen Sitznachbarn wechselt schon nach wenigen Minuten von gelangweilt zu interessiert. Mit hohem Anspruch wird Wagners Musik vom RSB klang- und kraftvoll gespielt; es bewährt sich, dass die Besetzung und damit auch Wagners Klanggewalt eben nicht drastisch reduziert wurde. Vom Vorspiel des Rheingold bis zum Schluss der Götterdämmerung sind die inhaltlich und musikalisch wesentlichen Passagen der Oper zu hören, wobei die Ausschnitte einsteigerfreundlich zwischen zwei und fünf Minuten dauern. Das Solistenensemble agiert spielfreudig und engagiert, besonders hervorgehoben sei hier Stefan Vinke, der als Siegmund und Siegfried überzeugt. „Szenisches Konzert“ nennt das RSB die Produktion, und tatsächlich ist es die Musik selbst, die hier als Wagners wesentliche Ausdrucksebene nicht nur optisch im Mittelpunkt der Aufführung steht.

Der sparsam und geschmackvoll gehaltenen Inszenierung fällt lediglich eine dienende Rolle zu: Die Darsteller sind schlicht kostümiert; die Konzertkleidung der Sänger wird durch rollentypische Elemente wie Wotans obligatorische Augenklappe ergänzt, durch die dem Zuschauer die Einordnung der Personen in die Handlung erleichtert wird. Im weiteren Verlauf erweist sich dies als überaus hilfreich, da alle Sänger nacheinander mehrere Rollen verkörpern. (Nebenbei bemerkt der Pubertist flüsternd, dass stimmliches Volumen und Körperumfang im Wagner-Fach wohl oft proportional seien.) Die phantasievollen Details der Kostüme und wenige Requisiten beleben das Bild ohne abzulenken; besonderen Anklang bei meinem Sitznachbarn finden die rot blinkenden Handschuhe von Loge, dem Feuergott. Zusammen mit der Licht- und Farbregie sowie dezenten Projektionen schaffen sie einen stimmungsvollen, ästhetisch ansprechenden Rahmen für Wagners Musik. Wenige Publikumsaktionen werden gezielt eingebaut; als „Hilfs-Zwerge“ für den Goldtransport melden sich die jüngsten unter den Besuchern gerne – der junge Herr neben mir lächelt hier nur milde.

Als Glücksgriff und Schlüsselrolle für die Produktion erweist sich letztendlich, wider der anfänglichen Befürchtung, Herr Luna: Aus seiner Rolle als passiver Beobachter heraus erklärt er die Handlung zwischen den Musikausschnitten kurz und prägnant mit einem trockenen Humor, der sich nicht anbiedert. Die Geschichte selbst bleibt dem Original sehr nahe, Goldbarren werden geschleppt, Schwertkämpfe ausgefochten, Liebesschwüre geschworen. Auf eine zusätzliche, vermeintlich kindgerechte Handlungsebene wird völlig verzichtet, aber dank Herrn Lunas distanzierter Betrachtungsweise gelingt es dennoch immer wieder, dass sich das Publikum in der alten Sage selbst wiederfindet: Die Darstellung des Göttervaters und seiner Frau als „die Wotans“, die sich beim Bau des Eigenheims finanziell übernommen haben, oder von Brünnhilde als moderner, emanzipierter junger Frau, die auf dem Schlachtfeld „arbeitet“ und nun Hausfrau werden soll, lassen Jung wie Alt schmunzeln. Auch zahlreiche ironische und doch betont sachliche Bemerkungen am Rande lockern die verworrene Geschichte um Mord, Inzest und Verrat auf sympathische Weise auf. Über die trockene Feststellung, dass sich Siegfried mit Gutrune in die einzige Frau verliebt habe, die nicht seine Tante sei, muss selbst mein Sitznachbar lachen.

Natürlich ist die Handlung gekürzt und der ein oder andere Sprung nur schwer nachzuvollziehen; die anschließende Diskussion mit dem 14-Jährigen, warum denn nun Brünhilde genau bestraft wurde, dauert ihre Zeit. Natürlich ist der eine oder andere Wechsel von der Musik zum Text etwas abrupt, dies äußert sich auch in einer gewissen Unsicherheit, wann denn nun zwischendrin geklatscht werden soll oder darf. Aber wen stört es? Und natürlich dauert es länger als 100 Minuten. Zur Musik kommt noch der Text und die Pause, so dass erst nach insgesamt zweidreiviertel Stunden auch mein auffallend gut gelaunter Sitznachbar und ich in den begeisterten Schlussapplaus für die Mitwirkenden einstimmen können. „Endlich habe ich die Handlung verstanden!“, diesen Satz hört man mehr als einmal. Die Ernsthaftigkeit und der künstlerische Anspruch, mit denen hier Wagner für junge Leute produziert wurde, sie werden vom Publikum dankbar angenommen und gewürdigt.

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