Prof. Dr. med. Christoph Wagner gilt als Begründer der Musikphysiologie im deutschsprachigen Raum. Seine weltweit einzigartige Forschung zur Individualität der Musikerhand wird seit 2009 am Zürcher Zentrum Musikerhand (ZZM) der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) weitergeführt. Aus Anlass seines 80. Geburtstags baten wir ihn zum Gespräch.
neue musikzeitung: 2009 hat die Zürcher Hochschule der Künste die von Ihnen entwickelten Messgeräte zur Handdiagnostik übernommen. Was bedeutet dies für Sie persönlich?
Christoph Wagner: Es ist für mich eine große Freude, dass die Arbeit, die ich 1964 am Max-Planck-Institut für Arbeitsphysiologie Dortmund begonnen hatte und von 1974 bis zu meiner Emeritierung 1993 mit dem Institut für Musikphysiologie an der Musikhochschule Hannover etablieren und weiterentwickeln konnte, nun wieder aufgegriffen und fortgeführt wird. Die Einbettung in den Bereich Musikphysiologie/Musik- und Präventivmedizin der ZHdK ist auch insofern ein Glücksfall, als das Team um Prof. Dr. med. Horst Hildebrandt eine Garantie für den hohen Praxisbezug der weiteren Forschung ist.
nmz: Welchen Beitrag leistet das Zürcher Zentrum Musikerhand (ZZM) konkret für die Musiker?
Wagner: Einer der Schwerpunkte des ZZM ist die Beratung. Interessierte Studierende und Musiker können ein objektives und differenziertes Bild von den biomechanischen Eigenschaften ihrer Hände erhalten. Das sogenannte „Handprofil“ erfasst zur Zeit bis zu 40 Eigenschaften – Handform, Spannweiten und Gelenkwiderstände. In Verbindung mit der Beobachtung am Instrument bietet es etwa bei der Suche nach Ursachen von Überlastungssyndromen konkrete Ansatzpunkte. Genauso wichtig ist der präventive Aspekt. Vorschläge für ergonomische Anpassungen gehören ebenso zur Beratung wie individuell angemessene Spielbewegungen und Übungsmethoden.
nmz: Was erhoffen Sie sich vom ZZM in den nächsten zehn Jahren?
Wagner: Zunächst einmal hoffe ich, dass durch die breite Anwendung der Biomechanischen Handmessung das Bewusstsein für die Individualität der Hand noch stärker wächst und dass sich das ZZM als Kompetenzzentrum der ZHdK weiter etabliert. Wünschenswert wäre auf alle Fälle eine systematische Erweiterung der biomechanischen Diagnostik. Geräte zur Messung der Fingerkräfte und der Handgelenkbeweglichkeit sind gerade in Entwicklung. Über die Bedeutsamkeit dieser Handeigenschaften für das Instrumentalspiel und deren enorme Variation gibt es keine Zweifel. Auch durch die Verbindung der Handdiagnostik mit der gerade angelaufenen Forschung zum motorischen Lernen in Kooperation mit dem Collegium Helveticum der Universität und ETH Zürich sind wesentliche und pädagogisch aufschlussreiche Ergebnisse zu erwarten. Schließlich kommt es darauf an, den Datenpool von über 1.500 professionellen Musikern, der dem ZZM jetzt bereits zur Verfügung steht, wissenschaftlich weiter auszuwerten und gezielt zu erweitern – einerseits instrumentenspezifisch, andererseits für Kinder und Jugendliche. Diese Daten sind die Grundlage der individuellen Beratung. Das Ziel ist, die Hand für alle Instrumente und in allen Stadien der Entwicklung zutreffend beurteilen zu können. Wenn man hier investiert, wird man in zehn Jahren in der Instrumentalpädagogik ein gewaltiges Stück vorangekommen sein.
nmz: Welche Konsequenzen aus dieser Forschung sehen Sie für die künftige Instrumentalpädagogik?
Wagner: Wenn man nicht nur auf die Auslese der Hochbegabten setzen will, dann braucht man eine individuelle Förderung auf allen Ebenen, ähnlich wie das im Sport mit großem Erfolg geschieht. Wissen und objektive Erkenntnisse sollten dort einfließen, wo Erfahrung und Intuition alleine nicht ausreichen. Die Statistiken über Berufskrankheiten von Musikern lehren uns, dass eine wissenschaftlich fundierte Instrumentalpädagogik überfällig ist. Dazu kann die Musikphysiologie ihren Beitrag leisten. Das Züricher Konzept ist eine große Chance.
nmz: Welche Möglichkeiten haben Musiker außerhalb der Schweiz, die über die Biomechanik ihrer Hand Genaueres erfahren möchten?
Wagner: Grundsätzlich kann jeder interessierte Musiker mit dem ZZM Kontakt aufnehmen1. In Hand und Instrument habe ich außerdem ein vereinfachtes Verfahren beschrieben, das jeder Leser selbständig anwenden kann, die sogenannten Pragmatische Handeinschätzung.2 Sie dient dazu, deutliche manuelle Begrenzungen nicht zu übersehen. Dies geschieht erstaunlicherweise eben doch ziemlich oft.3 Auch bei der Pragmatischen Handeinschätzung kommt es auf präzise Durchführung und kompetente Interpretation der Ergebnisse an. Wer Unterstützung möchte, kann ein Einführungsseminar bei Ulrike Wohlwender oder Oliver Margulies besuchen und sich wegen individueller Beratung an sie wenden.4
nmz: Ihre Forschung umfasste weitaus mehr als die Musikerhand. Sie haben von Anfang an auch musikalische Ergebnisse objektiviert. Wo liegt da die Verbindung zur Hand?
Wagner: Wenn man Musiker zur Anwendung von physiologischem Wissen motivieren will, braucht man letztlich musikalische Argumente. Dazu muss man das musikalische Ergebnis objektivieren, zumindest einzelne Aspekte des Könnens. Wir haben, lange bevor es Computerflügel gab, einen Flügel so umgebaut, dass wir die rhythmische Präzision auf eine Millisekunde genau messen konnten5: Damit haben wir nicht nur die individuelle Präzision beim Klavierspiel erfasst, sondern auch erste Einblicke bekommen in Prozesse, die bis dahin unbekannt waren, etwa in die unterschiedlichen Effekte von langsamem und schnellem Üben. In der Verbindung der beiden Ansätze – Was ist (manuell) vorhanden? Was wirkt sich am Instrument aus? – liegt auch eine entscheidende Aufgabe künftiger Forschung.
Anmerkungen
1 Kontakt ZZM: www.zzm.ch
2 Christoph Wagner: Hand und Instrument – Musikphysiologische Grundlagen. Praktische Konsequenzen, Wiesbaden 2005, S. 263–270 und Messblätter
3 Ulrike Wohlwender: Was heißt hier „kleine Hand“? Spannweiten und andere Handeigenschaften realistisch einschätzen, in: Üben & Musizieren 2/2009, S. 30–35
4 Termine und Kontakt unter www.musikerhand.de
5 Literaturübersicht unter www.christoph-wagner-musikphysiologie.de