Banner Full-Size

Das künstlerische und kreative Kind als Zielvorstellung

Untertitel
Bei der Bildungsmesse Didacta wurde auch die Rolle der Musik in der Grundschule diskutiert
Publikationsdatum
Body

Musikalische Bildung genießt hierzulande offiziell einen hohen Stellenwert, besonders im Vorschul- und Grundschulalter: Sie biete „eine wunderbare Möglichkeit für kreatives Verhalten“ und könne das „Ausdrucksverhalten stärken“, lobt etwa Wassilios Fthenakis, Präsident des Didacta-Verbandes für Bildungswirtschaft, anlässlich der diesjährigen Didacta in Stuttgart.

Fthenakis‘ Auffassung von den segensreichen Auswirkungen der kindlichen musikalischen Bildung entspricht damit ganz den Vorstellungen, die sich auch in den Lehrplänen für Musikunterricht in der Grundschule der einzelnen Bundesländer finden: Da sollen wahlweise junge „Komponistinnen und Komponisten entdeckt“ oder „Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Ausdrucksfähigkeit entfaltet“ werden. Und weil Bildungspolitik nach wie vor Ländersache ist, fallen die Stundenpläne unterschiedlich aus. Die Bandbreite reicht von der Musikerziehung nach Kern- oder Teilrahmenplan bis hin zu Fächerverbünden und Lernbereichen, bei denen Musik nicht als eigenständiger Fachunterricht erteilt wird, sondern eher einfließt.

Diese unterschiedlichen Organisationsformen von Bildung seien kontraproduktiv, ist Fthenakis überzeugt. „Das trägt zur Bildungsungerechtigkeit bei. Wir brauchen einen einheitlichen Bildungsplan und ein nationales Evaluationssystem“, forderte er bei der Eröffnung der Bildungsmesse. Kindliche Lernerfolge hingen immer noch zu stark von der jeweiligen sozialen Herkunft ab. Außerdem sei Bildung in Deutschland im Vergleich zu anderen Industrie-ländern unterfinanziert: „Deutschland gibt 5,3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Bildung aus, das ist ein Prozent niedriger als der OECD-Durchschnitt.“ Vor allem der Vorschul- und der Grundschulbereich seien chronisch unterfinanziert, obwohl sie individuell und sozial am meisten zum Bildungserfolg beizutragen hätten. Auch der Bund müsse in die Pflicht genommen werden, da er von Bildungsfortschritten am meisten profitiere. Viele der Pädagoginnen und Pädagogen im Saal spendeten Zwischenapplaus.

In der Grundschulpraxis sieht es tatsächlich so aus, dass Kinder mit sehr unterschiedlichen musikalischen Vorkenntnissen in die Schule kommen. Manche kennen Musik vor allem als Klangkonserve, andere bringen schon einen ganzen Schatz an Liedern mit oder spielen sogar ein Instrument. Nicht alles hängt dabei vom familiären Hintergrund ab. Eine entscheidende Rolle spielt auch, ob und in welcher Weise die Einzelnen in Kitas und Kindergärten – etwa über Musikspiele – zum Singen oder zum musikalischen Experimentieren auf Instrumenten angeregt wurden. Darauf gehen die verschiedenen Grundschullehrpläne auch ein und entwerfen ein Spektrum an musikalischen Kompetenzen, um möglichst alle Kinder ins Boot zu holen: Lieder und Verse wiedergeben, Musikinstrumente benennen, sich zu Musik bewegen, verschiedene Musikstile kennen lernen, eventuell auch Musik notieren – die Liste ist je nach Bundesland lang und stellt unter Umständen eine Herausforderung für Lehrkräfte dar. Schließlich wird gerade Musik in der Grundschule zu einem großen Teil fachfremd unterrichtet.

So ist es einerseits sehr zu begrüßen, dass sich Wassilios Fthenakis für eine möglichst frühe musikalische Bildung und die entsprechende Ausbildung von Erziehungsfachkräften stark macht oder Bildungspläne lobt, die von Anfang an die Zielvorstellung vom „künstlerischen und kreativen Kind“ formulieren. Denn die Grundlagen gerade musikalischen Lernens werden schon lang vor dem ersten Schultag gelegt, spätestens ab dem Kleinkindalter. Andererseits empfindet der Didacta-Präsident musikalischen Fachunterricht in der Grundschule als pädagogischen Rückschritt: „Wir haben diese disziplinorientierte Pädagogik längst hinter uns gelassen. So denken Erwachsene und Fachleute, aber nicht die Kinder. Sie gehen sehr ganzheitlich an diesen Prozess heran.“ Die künstlerischen Bildungsbereiche sollten stattdessen systematisch für andere Fächer genutzt werden, etwa wenn es um mathematische Bildungsbegriffe wie oben, unten, rechts, links, Zweier- oder Dreiergruppen gehe. Die Kunst liege darin, musikalische Angebote mit Lernsituationen zu verbinden. Gesang, Musizieren und Tanzen könnten in Projekte eingebettet und etwa bei einem Abschlussfest vorgeführt werden. „Heute holt man aus jeder Bildungsgelegenheit das Maximum für das Kind heraus.“

Doch das Prinzip von Musik als einer begleitenden, wenn auch festen Praxis im Alltag hat sich in der Realität des Grundschulunterrichts nicht bewährt. Das Land Baden-Württemberg etwa erprobte in der Vergangenheit den Fächerverbund Mensch-Natur-Kultur. Ergebnis: Ab dem Schuljahr 2015/16 wird in dem Bundesland wieder Musik als eigenständiges Unterrichtsfach in der Grundschule unterrichtet. Zwar habe sich das außerschulische musikalische Angebot erweitert, die musikalischen Lernprozesse in der Schule dagegen würden durch eine erzwungene Verbindung unterschiedlicher Fächer in der Regel gedrosselt, die Kinder seien tendenziell – Stichwort Bildungsgerechtigkeit – musikalisch unterversorgt: zu diesem Fazit gelangte etwa der Landesmusikrat Baden-Württemberg nach einer Umfrage unter den Lehrkräften und Schulleitern des Landes. Zwar können musikbegeisterte, selbst musizierende und pädagogisch entsprechend vorbereitete Lehrer auch in einem Fächerverbund erfolgreich musikalische Bildung betreiben – auch das ergab die Umfrage –, aber in der deutschen Grundschullandschaft stellen sie derzeit eher die Ausnahme als die Regel dar.

Auch wenn also Wassilios Fthenakis in seiner Ziel- und Wunschvorstellung musikalisch kompetente und gut ausgebildete Fachkräfte vorschweben, wie er sie auf seinen Reisen im Ausland kennengelernt hat: Nachdem hierzulande in Elternhäusern, Kindergärten und Schulbildungsplänen das Fach Musik jahrzehntelang eher stiefmütterlich behandelt wurde, braucht auch eine Neu-Musikalisierung der Gesellschaft und damit der Erzieher und Pädagogen Zeit. Dass Musik als Konsumgut mittlerweile auch Kindern nahezu unbegrenzt zur Verfügung steht, macht die Situation nicht einfacher. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge sollten die Länder also eher darauf achten, mehr Fachlehrer in den Grundschulen zu beschäftigen und Musik als Fachunterricht zu erhalten. Ein einheitlicher Lehrplan – wie Fthenakis ihn ebenfalls herbeisehnt – könnte davon jedenfalls nur profitieren.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!