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Im Umfeld der ISME traten die Fürther Musiker auch in einem Altenheim auf. Foto: Max Wagner
Im Umfeld der ISME traten die Fürther Musiker auch in einem Altenheim auf. Foto: Max Wagner
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Das Leben bekommt man inklusive

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Gedanken zur Weltkonferenz der International Society for Music Education (ISME) in Glasgow
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55 grundverschiedene Menschen unternehmen am Ende des Schuljahres eine Reise. Darunter sind Jungen und Mädchen, Lehrkräfte einer Förderschule (Förderschwerpunkt geistige Entwicklung) und Lehrkräfte der Musikschule Fürth e.V., ein Busfahrer, eine Studentin der Sonderpädagogik und eine Heilpädagogische Erziehungshilfe im Ruhestand, Menschen mit Down-Syndrom und ein Mädchen mit Erkältung, Beschäftigte einer Lebenshilfe-Werkstatt, Reisende mit großem Gepäck und solche mit kleinem, Raucher und Nichtraucher, Schüler verschiedener nationaler Herkunft und verschiedener Religionen. Ziel: Die Weltkonferenz der International Society for Music Education (ISME) in Glasgow.

Bereits am zweiten Tag unseres Aufenthaltes brach eine kleine Gruppe frühmorgens nach Edinburgh, zur Preconference der ISME auf. Mein erster Workshop stand auf dem Programm: „Making music in a self-determined way: Ideals of Inclusion in music teaching practice“. Sechs Schüler (vier Musiker aus dem Fürther Projekt „Berufung Musiker“ und zwei Musikerinnen des Pop-Ensembles „flugs“) unterstützten mich, unser Ideal einer inklusiven Musikpädagogik live­ vorzustellen und die Methode „von der Harmonie zur Melodie“ in einzelnen Schritten lebendig werden zu lassen.

Nachdem ich mir die anderen Vorträge des Tages zunehmend irritiert angehört hatte, beschloss ich, meine Präsentation spontan neu zu gewichten, die Teilnehmer weit aktiver als geplant einzubeziehen und auch grundsätzliche Aussagen zum Stand der Entwicklung der Inklusion im Verband deutscher Musikschulen zu machen.

Die professionelle Organisation der Konferenz und die Freundlichkeit, mit der wir an den Veranstaltungsorten aufgenommen wurden, rangen mir allen Respekt ab. Die Beiträge der Kollegen stimmten mich allerdings nachdenklich. Nachdenklich machten uns Fürther auch die Reaktionen auf unsere in Edinburgh und Glasgow stattfindenden Konzerte und Workshops. Von interessanten Beispielen aus Finnland (Resonaarigroup) und Schottland (Drake Music) abgesehen, die die Selbstbefähigung (Empowerment) der Musiker mit Behinderung thematisierten, nahmen die Vorträge der Professoren durchweg Bezug auf eine Realität im pädagogischen Labor, die mit unseren Erfahrungen einer inklusiven Normalität wenig zu tun hatte. Zum Teil hatten wir den Eindruck, dass das für uns Wesentliche, Herausragende und Bedeutende unserer Präsentationen unverarbeitet als „normal“ zur Kenntnis genommen wurde, dass hingegen andere Aspekte unseres inklusiven Anspruchs, die für uns mittlerweile völlig normal sind, Erstaunen und Begeisterung hervorriefen und Beachtung fanden. Es waren Reaktionen, die wir aus unserem regionalen Wirkungskreis zwar (leider) allzu gut kannten, so aber in der internationalen Fachwelt nicht erwartet hatten.

Normal für uns ist es zum Beispiel, dass wir Konzerte mit anspruchsvollen Stücken wie „Sir Duke“ eröffnen (selbstverständlich mit „amtlichem“ Chorus), dass 45 Musiker mit und ohne Behinderung sattelfest 9/8-Takt spielen können, dass das Zusammenspiel ohne Dirigenten harmoniert, dass die Musiker mit Behinderung musikalisch tragende Rollen spielen oder dass die Qualität der Darbietungen das Publikum begeistert.

Alles andere als normal ist es für uns, dass wir die 45 Musiker der Band „Vollgas Connected“ überhaupt punktgenau zum Auftritt auf einer Bühne versammeln können und dass dann jeder, seiner augenblicklichen Kompetenz entsprechend, „Richtiges“ beizutragen hat, so dass die Vielfalt Aller klingt. Beispielsweise war es für uns auch in Schottland immer eine Gratwanderung, manche Musiker mit Behinderung (und nicht nur die) behutsam aber deutlich zu Ruhezeiten zu überreden, so dass sie ihr musikalisches Können dann in den Konzerten auch zeigen konnten. Nicht nur einmal mussten Betreuer mit Musikern im Quartier bleiben, weil diese die Aufregung der Reise überfordert hatte oder sie erkrankt waren.

Die „Commission on special music education and music therapy“ hatte sich für ihr Preconference Seminar das Motto „Imagine the future – everyone plays music“ gegeben. Ob es wirklich ein erstrebenswertes Ziel einer inklusiven Entwicklung ist, dass jeder Mensch Musik macht, sei dahingestellt. Dass ein gemeinsamer Inhalt – zum Beispiel das gemeinsame Musizieren – aber nachgerade unabdingbar ist, um gemeinschaftsstiftende Erfahrungen und beispielgebend Einsichten in ein „Aufeinander-angewiesen-sein“ in Gemeinschaften zu ermöglichen, steht außer Frage. So stehen bei unseren Konzertreisen wirklich ausnahmslos alle Schüler gemeinsam auf der Bühne (everyone plays music) und tragen, ein jeder bestmöglich, zum Gelingen der Auftritte bei. Jeder Einzelne zeigt sein Können und damit sich selbst. Wir Musikpädagogen tragen Verantwortung dafür, dass wirklich jeder etwas beitragen kann. Indem wir jeden Menschen annehmen, ihm Vertrauen schenken und ihn unterstützen, seine Möglichkeiten zu nutzen und zu erweitern.

Auch in Schottland nahmen wir deshalb – unabhängig vom ISME-Kongress – mehrere Gelegenheiten war, in unterschiedlichen Formationen gemeinschaftliches und individuelles Können zu zeigen. So bei Konzerten in Paisley Abbey, in Paisley Town Hall (Rathaus) oder in einem Altenheim.

Das Menschenrecht auf Teilhabe an Bildung umzusetzen, ist eine zentrale Aufgabe der Bildungspolitik. Lernen ist aber kein Selbstzweck. Vielmehr hat die bestmögliche Förderung jedes Menschen das individuell sinnerfüllte Leben in der Gemeinschaft aller Menschen als Ziel. Inklusive Schulen erziehen dazu, Inklusion zu leben.

Die für uns zentralen Aspekte einer inklusiven Musikpädagogik wurden – in den Kongressbeiträgen, die wir verfolgen konnten – kaum thematisiert. So zum Beispiel die Selbstbestimmung der Musiker, die Übertragbarkeit der vorgestellten Methoden auf andere Gruppen oder Inhalte, die Finanzierung der Vielfalt, die Kompatibilität der „Beginners“ mit den „Advanced learners“ und mit professionellen Musikern, der Instrumentalunterricht, die Vereinbarkeit der Funktionslogik etablierter (Bildungs-) Systeme mit den Zielen einer inklusiven Entwicklung, die Unterstützung der Chancengerechtigkeit durch ungleiche Maßnahmen für ungleiche Menschen …

Nach gründlichem Studium aller eingereichten und veröffentlichten Abstracts komme ich zu dem gleichlautenden Ergebnis: Eine inklusive, also viele Perspektiven einschließende Auseinandersetzung mit dem Thema inklusive Musikpädagogik hat den 32. ISME Kongress, der unter dem Motto „Music: for Identity, for Well-being, for Justice stand“, (noch?) nicht erreicht. Bisweilen nur streiften die Diskussionen das Thema Inklusion, wenn es etwa um politisch korrekte Sprache ging, darum, dass der Begriff „helpers“ für Schulbegleiter diskriminierend für die Kinder mit Behinderung sei und stattdessen der Begriff „partner“ Verwendung finden solle. So sinnvoll ein fortwährendes Ringen um diskriminierungsfreie Begriffe auch ist, am letzten Tag unseres Aufenthaltes hatten wir dafür wenig Zeit, denn wir kannten unsere Schüler: Einige konnten ihre Koffer nicht alleine packen und brauchten unsere Hilfe(!). Wer Inklusion will, bekommt das Leben inklusive.

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