Jede Diskussion um ein „Ob“ wird völlig verschwinden. Dafür wird das „Wie“ immer wichtiger. In fünf Jahren? Oder sogar schon in zwei? Oder ist es gar schon passiert? Alles, was es zur Schnittmenge der beiden Themen „Musikvermittlung“ und „Web 2.0“ zu sagen gibt, hat kurze Laufzeiten. Das Netz ist ein schnelles Medium. Und wie schnell reagiert die Klassik, genauer gesagt deren Vermittlung, darauf?
Bis vor wenigen Jahren sah es noch so aus, als gäbe es diese Schnittmenge nicht. Klassische Musik und Web 2.0 schienen nahezu inkompatibel. Warum eigentlich? Beantworten wir diese Frage erst einmal damit, dass wir hier das diffuse Wort „Angst“ notieren. Angst vor einer Öffnung des weitgehend hermetischen Terrains, auf dem sich klassische Musik bewegt. Angst vor einer gewissen Profanisierung von Hochkultur. Angst vor dem unbekannten Medium, das in seiner Version „Web 2.0“ auch den unbekannten – wissenden wie unwissenden – Nutzer anspricht. Ja, mehr als das: Dort, wo das Internet aus sogenanntem „User Generated Content“ besteht (eine andere, sperrige Bezeichnung für Web 2.0), geht es um den Nutzer als konkreten Partner, zumindest als aktives, respektables und mündiges Gegenüber. Und davor sollte man Angst haben?
Eigentlich ist die Entwicklung der beschriebenen Schnittmenge großartig und stellt die Welt auf den Kopf. Denn plötzlich werden stumm lauschende Rezipienten klassischer Musik zu sprechenden Hörern mit eigener Meinung oder sogar eigenem, kreativen Feedback. Schauen Sie sich die Facebook-Seite der Bayerischen Staatsoper München an, dann verstehen Sie, was damit gemeint ist. Dem mitteilungsfreudigen Münchner Opernpublikum scheint endlich ein Medium geboten, sich auszudrücken und auszutauschen. Oper scheint hier plötzlich Stadtgespräch. Da wundert es kaum, dass die Online-Verantwortlichen des Opernhauses Experimente wagen wie etwa einen
Live-Blog zum Opern-Livestream. So, als gäbe es zwischen Tosca oder Tatort eigentlich kaum Unterschiede. Zumindest nicht für denjenigen, der das jeweilige Bühnen- beziehungsweise Filmereignis online verfolgt und sich simultan im virtuellen Publikumsraum austauscht. Und das sind einige: Als im Januar 2012 Verdis „Don Carlos“ aus dem Münchner Opernhaus ins weltweite Netz ging, wurden stolze 459.000 Klicks auf den Live-Stream verzeichnet.
Öffentliche Resonanzräume
Nicht jeder Veranstalter kann mit so viel und emotional geführter Resonanz im Netz rechnen. Anders gesagt: Vor jedem Haus, jedem Künstler, jedem Veranstalter oder jedem Musikvermittler liegt die kreative Herausforderung, jene Stelle im Web 2.0 zu finden, an der ihm Resonanz auf sein eigenes künstlerisches Tun zuwächst. Erst gilt es, herauszufinden, wo Resonanz erwünscht ist oder wo ein Raum online gar neu geschaffen werden soll. Zu erkennen, wo die Möglichkeiten liegen, die das Web 2.0 im Unterschied zur sogenannten ersten Generation des Internet bietet, ist sicher der wesentlichste Schritt, den jeder tun muss, der sich ins Netz aufmacht.
Mittlerweile sind Kinder und Jugendliche herangewachsen, die mit dem Internet groß geworden sind und als sogenannte Digital Natives die Wege im Internet mit großer Selbstverständlichkeit zu Orten beschreiten, an denen klassische Musik stattfindet. Musiktitel finden Kids und Teens auf YouTube. Das gilt für Klassik genauso wie für jede andere Musik. Diese Generation junger Klassikhörer stellt alle Formen von Social Media überhaupt nicht infrage. Sie wird erst stutzig, wenn andere diese sehr individualisierten Wege zu Musik ignorieren oder gar ablehnen. Musikvermittlern wächst heute – übrigens mit Blick auf alle Generationen – die Aufgabe zu, nicht zu klagen oder diese Entwicklung gar aussitzen zu wollen, sondern sie als Teil der Musikszene wahrzunehmen und sich ihr schnellstmöglich anzunähern. Auf welchem Wege, mit welcher Intensität, mit wie viel Know-How oder mit wie viel Spaß, muss jeder für sich klären. Wer den praktischen Sinn oder gar den künstlerisch kreativen Mehrwert der Möglichkeiten des Web 2.0 erkannt hat, wird sich wie im Schlaraffenland fühlen können. Oder – andererseits – als Internetverweigerer umso genauer wissen, warum Web 2.0 nicht ins gewünschte Konzept passt.
Vermehrt treten auch junge Musikschaffende auf, die mit dem Internet aufgewachsen sind. In einem Orchester wie der Jungen Deutschen Philharmonie ist die Affinität zum Web 2.0 allgegenwärtig – im Management ebenso wie im Künstlerischen. Auch das Festival „Podium“, 2009 vom damaligen Cellostudenten Steven Walter als „Junges Europäisches Musikfestival Esslingen“ initiiert, ist so ein Fall. Alles wird virtuell, online, papierlos, länderübergreifend im Netz vorbereitet. Erst zu Festivalbeginn wird’s real: „Das ganze Erlebnis nur am 13. April 2012 in einem Konzert hier auf Erden“ – verrät das Programmheft im Blog der Internetseite. Mittlerweile wurde das „Podium“, dessen Macher zwischen 15 und 25 Jahre alt sind, mit Preisen überhäuft, darunter dem ECHO Klassik (siehe unten stehendes Interview).
Der Zugang, der heute zu klassischer Musik geschaffen werden kann oder muss, führt zwangsläufig zu einem Aufbrechen klassischer, oftmals hermetischer Strukturen. Ende März 2012 spielte die Junge Deutsche Philharmonie Olivier Messiaens Turangalîla-Sinfonie in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmonie. Was bislang exklusiv eine Plattform für die Berliner Philharmoniker war, wurde nun auch für Studenten- und Jugendorchester geöffnet. Höchste künstlerische und technische Perfektion, live und völlig kostenlos aus der Berliner Philharmonie, auf der ganzen Welt online hörbar, kommentierbar, „teilbar“, mitteilbar – das ist eine Erfolgsgeschichte. Wer trotz solcher und anderer, auch weniger kostspieliger und dennoch erfolgreicher Projekte das Internet samt seiner Öffentlichkeit grundsätzlich ablehnt, wird in Zukunft sein Festhalten an hermetischen, sich selbst genügenden Räumen begründen müssen. Veränderte gesellschaftliche wie finanzielle Rahmenbedingungen werden das erzwingen.
Die Bedeutung von Inhalten
Zwischen kategorischer Ablehnung und konstruktiver Kritik gegenüber dem Social Web sollte an dieser Stelle unterschieden werden. Facebook und Twitter eine Portion Skepsis entgegenzubringen, scheint wichtig. Soziale Netzwerke machen zu PR-Zwecken und zur Kontaktpflege mit dem Publikum Sinn. Sie verbreiten Information. Neben der reinen Information aber gewinnen Inhalte in der digitalen Welt immer größere Bedeutung. Der österreichische Blogger und Kulturmanager Christian Henner-Fehr beobachtet, dass es besonders für Kulturschaffende immer wichtiger werde, Inhalte zu generieren. „Beziehungsnetzwerke sind wichtig, aber sie verlieren gegenüber den Inhalten an Bedeutung“, so Henner-Fehr. Im Klartext heißt das, dass Facebook & Co – vor allem im kreativen, künstlerischen Bereich – an ihre Grenzen stoßen. Eine Chance, denn gerade Inhalte zählen schließlich zum Kerngeschäft der Musik- und Kunstschaffenden. Und hier ist – wie wunderbar – wieder die Kreativität eines jeden Einzelnen gefragt. Beim Bloggen, zum Beispiel.
Blogs wie der mit spitzer Feder geschriebene Bad Blog of Musick von Moritz Eggert, aus dem „lebendigen“ Musikbetrieb berichtende Künstlerblogs wie etwa der des Cellisten Alban Gerhardt oder das ambitionierte, fast schon kulturphilosophische „Podium.Lab“ schicken Gedanken und Gesprächsstoff über klassische Musik hinaus ins Web, die jeder auffangen kann. Persönlich und individuell. „Eine Plattform zum Querdenken, Umdenken und Nachdenken“ bieten die Blogger vom „Podium“ ihrem Netzpublikum an und wünschen sich, dass an dieser Stelle „unterschiedlichste Menschen über das kränkelnde Konzertwesen, ernst zu nehmende Musikvermittlung, moderne Kulturpolitik, spannende Projekte, wegweisende Trends und vieles mehr“ plaudern. Immer mit der Musik im Mittelpunkt. Im Web 2.0, so könnte man es auf einen Nenner bringen, ist das Musikvermitteln zum Selbstzweck geworden. Und das mit einem zutiefst demokratischen Grundton: für jeden offen und für jeden da.