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Titelseite der nmz 2018/03.
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Das radikal lokale Konzerthaus

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Auftrag und Arbeitsweise von Musikvermittlung im kulturellen Wandel · Von Constanze Wimmer
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„We need to be radically local!“ Neil Wallace, der Programmdirektor des Konzerthauses in Rotterdam, plädiert für ein tiefes Verständnis für die Stadt, in der man kulturell tätig ist – im Rahmen der 6. Ausgabe des Symposiums „The Art of Music Education“ im Februar 2018 unter dem Titel „Discovering cultural relations – music institutes in multi-diverse urban societies“. Alle zwei Jahre laden die Hamburger Körber Stiftung und die Elbphilharmonie die internationalen Akteure der Musikvermittlung zum Erfahrungsaustausch und zur Diskussion rund um aktuelle Fragen des Metiers. Und was sich heuer zum ersten Mal abzeichnete, kann tatsächlich als Beginn eines Paradigmenwechsels in der Szene interpretiert werden.

Bislang standen Konzertformate für und mit jungem Publikum, Orchesterprojekte mit Jugendlichen aus benachteiligten Elternhäusern oder Schul-Kooperationsmodelle im Mittelpunkt der Tagungen und vermittelten damit kaum (Selbst-)Reflexion des Berufsfeldes zugunsten vieler Best-Practice Beispiele. Heuer herrschte jedoch ein völlig neuer Ton am Podium: Nicht mehr das Postulat „Seht, was wir alles für Euch tun“, sondern die Frage „Wie müssen wir uns selbst verändern, um für eine diverse Stadtgesellschaft relevant zu werden?“ versah Statements, Beispiele und Diskussionen mit einer neuen Dringlichkeit.

Bis auf wenige Ausnahmen gehören Intendanten, Programmverantwortliche und Musikvermittler in Europa der „neuen Mittelklasse“ an, die der Soziologe Andreas Reckwitz als Erbe der nivellierten Mittelstandsgesellschaft beschreibt. Gerne gibt sich das Kulturbusiness an der Spitze international, dafür weisen Mitarbeiter in der zweiten Reihe nur vereinzelt eine Zuwanderungsgeschichte auf. Für Großbritannien errechnete eine Studie des Arts Council, dass 16 Prozent der Verantwortlichen in Kultureinrichtungen einer ethnischen Minderheit angehören. In Deutschland und Österreich fällt dieser Wert mit Sicherheit noch wesentlich geringer aus. Schlecht bezahlte Praktika als üblicher Einstieg in die verheißungsvolle Arbeitswelt der Konzert- und Opernhäuser können sich nur Kinder aus wohlhabenden Elternhäusern leisten. Wie also Dramaturgen und Vermittler rekrutieren, die Teil einer diversen urbanen Gesellschaft sind und aus ihren eigenen Traditionen, Brüchen und transkulturellen Transformationen im Sinne neuer und zeitgemäßer Programme und Vermittlungsformate kulturelles Kapital für die Kultureinrichtung schlagen könnten? Und wie auf die neue Konfliktlinie in unserer Gesellschaft reagieren, die kosmopolitisch orientierte Bürger von national gestimmten trennt? Zusammenarbeit ist also gefragt – aber wie?

Mark Terkessidis prägte 2015 den Begriff der Kollaboration als wesentlich anspruchsvollere Alternative zur Kooperation. Während bei einer Kooperation Akteure aufeinandertreffen, punktuell zusammenarbeiten und sich danach wieder in intakte Einheiten auflösen, meint die Kollaboration eine Zusammenarbeit, die alle Partner auch tatsächlich verändert und transformative Prozesse in Gang setzt. Vieles findet gerade an Kultureinrichtungen statt, vieles davon kooperativ, manches kollaborativ: Schreibgruppen für geflüchtete Menschen, langfristige Opernprojekte mit Obdachlosen oder divers zusammengesetzte Publikumsbeiräte zur Kuratierung neuer Programmschienen. Und was bedeutet das für den gescholtenen Konzertabonnenten?

Gillian Moore, Intendantin des South­bank Centre und vormals Musikvermittlerin der London Sinfonietta, berichtet von einer alten Dame, die verzweifelt das Konzert mit Daniel Barenboim sucht, während im Foyer des Londoner Konzerthauses Hip-Hopper proben, eine Ausstellung zu digitalen Technologien läuft und gleichzeitig ein Musik-Workshop mit behinderten Menschen stattfindet. In diesem Tohuwabohu aus unbekannten kulturellen Codes den Eingang zum Konzertsaal zu finden, wird für die geübte Konzertgeherin zum unüberwindlichen Hindernis. Die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen kulturellen Ausdrucksformen, die an einem Ort gelebt werden sollen, grenzt an Überforderung: für das Publikum und die Programmverantwortlichen. „To be less dominant“ birgt die Gefahr des kulturellen Bauchladens in sich – trotzdem scheint der Weg der Diversifikation des Angebots an einem kulturell aufgeladenen Ort im Herzen der Stadt der einzig gangbare, weil er das gemeinsame Teilen von Live-Erlebnissen ermöglicht.

Oder ist es doch viel einfacher? Haci Halil Uslucan, Psychologe und Migrationsforscher, benennt drei Faktoren, die dafür ausschlaggebend sind, ob jemand Lust und Motivation entwickelt, sich mit Kultur auseinanderzusetzen: Autonomie, Kompetenz und soziale Affiliation. Unabhängig von Herkunft und Bildungshintergrund möchten Menschen selbstbestimmt ihre Aufmerksamkeit auf etwas lenken, dabei an Vorerfahrungen und bereits Bekanntes anschließen und Menschen treffen, denen man gerne begegnet.

Der Auftrag für Musikvermittler an Kulturinstitutionen scheint also klar: statt immer mehr und vielfältigere Angebote für eine fragmentierte Stadtgesellschaft zu entwickeln, liegt die Kraft in der Arbeit am Kern der künstlerischen Praxis der Institution. Aus dieser Eigenheit heraus lassen sich in der Mitte und an den Rändern der Stadt Partner wie Kulturvereine für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, Brennpunkt-Schulen oder Stadtteilinitiativen finden, um mit ihnen gemeinsam kollaborative Projekte zu entwickeln, die beide Seiten nachhaltig verändern und für die Bewohner der Stadt Ausgangspunkt für eine selbstbestimmte Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur sein können. Auf diese Weise transformiert sich das Publikum der Kulturinstitution vielleicht ganz von selbst so wie die Stadtgesellschaft.

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