„Es ist jedes Mal neu, es ist immer anders, und ihr müsst immer wach sein.“ Die Stimme Scott Rollers tönt aus dem Off der Probenaufnahmen, die während kurzer Umbaupausen auf einer Videoleinwand im Bühnenhintergrund zu sehen sind. „Jetzt!“ heißt das Programm, es ist bereits die vierte Veranstaltung unter diesem Titel, und wie schon 2008, 2009 und 2010 sind auch 2011 im Theaterhaus Stuttgart wieder über 100 Schülerinnen und Schüler beteiligt. Und doch ist es diesmal wieder anders, ganz neu.
Ein Ensemble aus acht jungen Musikern – Holzbläser, Streicher, Gitarren, Klavier, plus Roller am Cello – hat hinten links Stellung bezogen und leitet in das Programm ein. Dann kommen die Sechstklässler. Sie laufen über die Bühne durcheinander, Stühle und Tische die einzigen Requisiten. Auf verschiedene Klangsignale ändern sie ihr Tempo oder halten inne. Drei Schüler improvisieren mit Samples am Laptop. Ein Kaugummi wandert von Mund zu Mund: Als der Vorletzte in der Reihe ihn verschluckt, kratzt der Letzte einen neuen von der Schuhsohle ab und steckt ihn in den Mund. Leuchtende Stäbe, Schnüre, weiße Stoffhandschuhe tanzen im Schwarzlicht. Zwei skurrile Schrottskulpturen links und rechts am Bühnenrand warten darauf, bespielt zu werden. Zum Finale rezitiert Jerry Willingham kurze Texte und dirigiert: „Jetzt!“ rufen im Wechsel die 115 Schüler, die nun von hinten in den Saal strömen.
Vier Jahre lang war „Open_Music“ ein Projekt des Netzwerk Süd, das die Arbeit mit insgesamt mehr als 400 Schülern ermöglicht hat. Nach dem Ende des Netzwerks Neue Musik war zunächst unklar, wie es weitergehen sollte. Doch das Projekt ist älter als das Netzwerk: Roller gründete „Open_Music“ 2005 zusammen mit Ulrike Stortz. Der Unterstrich verweist auf die Welt der Software. Doch gemeint ist etwas Anderes: eine prinzipielle Offenheit ebenso der Schüler gegenüber neuen, ungewohnten Ausdrucksformen wie auch der Musiker und des Publikums gegenüber den musikalisch oft unerfahrenen Zöglingen: „Jetzt!“ steht für Improvisation, die Musik entsteht im Moment, das Unerwartete ist Programm.
Roller stammt aus einer musikalischen Familie aus Texas. Improvisation lernte er 1971 im Alter von 22 Jahren bei einem Aufenthalt an der Universität von Illinois kennen – ebenso wie Neue Musik. Beides hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen. Er studierte Musik, gründete ein Improvisationsquartett, kam 1984 nach Deutschland und ist wie Stortz seit 1994 Mitglied des Ensembles Gelber Klang, früher auch des Helios Quartetts, spielt in einem Doppel-Quartett mit den Gitarristen Scott Fields und Elliott Sharp, kürzlich auch mit dem Jazzpianisten Abdullah Ibrahim.
Offenheit und Flexibilität brauchen auch die Organisatoren. Arbeitete „Open_Music“ anfangs vor allem mit Gymnasiasten, so waren in jüngerer Zeit zunehmend Real- und Hauptschulklassen beteiligt. Theater und Tanz, Malerei und Skulptur, Neue Medien, Video und Lichtkunst sind nicht allein dazu da, dem Publikum etwas zu bieten. Roller, Stortz und Mitstreiter können ihre Schützlinge nur da abholen, wo sie sich befinden. Und Musikunterricht steht auf allen Stufen der schulischen Ausbildung nicht unbedingt oben auf der Prioritätenliste. „Wo die Tiefe der Erfahrung mit Musik nicht gegeben ist“, so benennt Roller das Problem, „bist du gezwungen, in die Breite zu gehen.“
Die Arbeit mit Hauptschülern ist schwierig. Oft fällt der Musikunterricht ganz aus, es gibt keine Lehrer, die über Open_Music eine Fortbildung erhalten könnten. Den Schülern, sagt Stortz, fehlt manchmal jegliche Selbstachtung: Sie können sich nicht vorstellen, etwas Positives auf die Bühne zu bringen. Hier kann das Projekt eingreifen, allerdings nicht nachhaltig, wenn der einmaligen Aufführung nichts folgt. Umgekehrt standen im letzten Jahr aufgrund des achtjährigen Gymnasiums erstmals keine Musiker auf höherem Niveau zur Verfügung. So reformiert sich die Schule zu Tode, und wenn dennoch etwas geht, so nur aufgrund der bereits investierten Arbeit: Die acht Musiker, die 2011 das musikalische Geschehen trugen, waren als einzige bereits an früheren Programmen beteiligt: „Unser Expertenensemble“, wie Scott Roller sich ausdrückt.
Nun aber ist es gelungen, institutionelle Förderung vom städtischen Kulturamt zu erhalten – zunächst nicht in voller Höhe, aber weitere Zuwendungen von Stiftungen sichern in diesem Jahr drei Programme: Am 21. Juni findet im Theaterhaus, rund um Stravinskys „Feuervogel“, erstmals eine Aufführung mit zwei Grundschulklassen statt, mit denen Scott Roller, die Tänzerinnen Juliette Villemin und Petra Stransky sowie die Theaterleute Luis Hergon und Nina Kurzeja zwei Jahre gearbeitet haben. Am 12. Juli heißt es dann zum fünften Mal „Jetzt!“ Wieder sind rund 120 Schüler aus sieben Schulklassen beteiligt, darunter Siebtklässler einer Waldorfschule mit verhältnismäßig soliden musikalischen Fähigkeiten. Am 22. November schließlich gibt es in der Stuttgarter Staatsgalerie erneut ein Konzert mit Gymnasiasten, professionellen Musikern und Auftragswerken unter dem Titel „Spannungsfeld Komposition – Improvisation“. Dabei erhält „Open_Music“ auch eine Auszeichnung als einer der 365 „ausgewählten Orte“ der Initiative „Deutschland – Land der Ideen“.
Aufführungstermine:
21.6., 18.30 Uhr, Theaterhaus Stuttgart: Der Feuervogel aus der Rosenschule. Kinder der 2. und 4. Klasse präsentieren ihr Kunst-Stück nach Motiven von Igor Stravinsky
12.7., 19.00 Uhr, Theaterhaus Stuttgart: Jetzt! 2012 – Improvisation als Lebensmittel, mit sieben Schulklassen, Musik: Scott Roller; Tanz: Juliette Villemin, Adrian Turner; Video/Film: Felix Zachmann; Schauspiel: Barbara Stoll, Roman Wehlisch; Kunst: Wolfgang Seitz, Tobias Ruppert; Künstlerische Gesamtleitung und Regie: Scott Roller und Barbara Stoll (Schulaufführung am 13.7., 10.00 Uhr)
22.11., 19.00 Uhr, Staatsgalerie Stuttgart: Spannungsfeld Komposition – Improvisation