Spontanes Singen hat – jenseits der Fischer-Chöre – nicht gerade Hochkonjunktur. Es hat im Gegenteil den Anschein, als sei nicht zuletzt im Zuge der berechtigten Kritik an der Jugendmusikbewegung, die in erster Linie auch eine Singbewegung war, dem Gesang insgesamt der Boden entzogen worden. Gemeint ist nicht die riesige Zahl von Laienchören, die sich auf oft bemerkenswertem Niveau dem liturgischen Dienst oder der Darbietungsmusik widmen. Es geht um zweckfreies, spontanes Singen als Ausdruck eines existenziellen Bedürfnisses. Dem Kind ist es auf natürliche Art noch zu eigen, es nimmt aber – glaubt man den vielen Erfahrungsberichten – schon mit dem Kindergartenalter stetig ab. Von den Auswirkungen auf spätere musikalische Aktivitäten abgesehen, ist dies ein Alarmzeichen für Geist und Körper des Einzelnen und für den Zustand der Gesellschaft insgesamt.
Diese Meinung vertreten jedenfalls die Initiatoren des Projekts „Il canto del mondo“, das sich im Mai letzten Jahres als Verein und als Stiftung mit ehrgeizigen Zielen konstituiert hat: „‚Il canto del mondo‘ möchte aus vielen triftigen Gründen das Selbersingen im Alltag fördern und kultivieren und damit ganz individuelle Wege zu einer gemeinschaftlichen gesunden Lebensweise entdecken helfen, konkrete Ermutigung zur Selbsthilfe leisten. ‚Il canto del mondo‘ wird im umfassenden Sinne des von Lord Menuhin umrissenen Verständnisses der Bedeutung von Singen durch vernetzte Projekte für die Familie, den Kindergarten, die Schule oder die Freizeit praktisch dazu beitragen, dass die Menschen wieder Freude finden, mehr selber zu singen als singen zu lassen.“
Was Hermann Rauhe, der die Präsidentschaft des Vereins übernommen hat, hier zu Beginn seiner Stellungnahme zum Projekt formuliert, zielt noch auf einen überschaubaren Bereich. Mit der Person Yehudi Menuhins kommt aber eine visionäre, weltumspannende Position ins Spiel. Dieser hatte das Projekt mit angeregt und gab ihm kurz vor seinem Tod einen Essay in Gedichtform mit auf den Weg. Ein zentraler Abschnitt lautet: So kann Singen zugleich Bewegung ins Eigenste sein, / gar eine sanfte Revolution der Befriedung auslösen, / und vielleicht uns Menschen zunehmend / aus lebensfeindlichen persönlichen und gesellschaftlichen Strukturen / herauslösen helfen. / All unsere Erfahrung und all unser Wissen sprechen dafür, / daß es so sein kann. / Auf diesem Wege können wir Menschen die Kraft entwickeln, / individuell von innen nach außen / und gesellschaftlich von unten nach oben / neue Strukturen zu bauen und zu erhalten, / die den lebendigen Frieden wachsen lassen und schützen. / So weiß ich nichts, was dagegen spräche. / Warum sollten wir es also nicht mit aller Zuversicht versuchen, / mit den Künstlern dieser Welt und allen, die sich dazu berufen fühlen, / gemeinsam eine solche Weltkultur des Singens, / gespeist aus allen Quellen der Völker, derart zu entfalten.“
Dieser Vision entsprechend strebt der Verein langfristig den Aufbau eines weltweiten Netzwerkes an, „um mit den verschiedenen Möglichkeiten in den Wissenschaften, in den Künsten und in der Gesellschaft das befriedende Potenzial des Singens, besonders auch in seinen Weisen als Universalsprache, als eigentlicher Muttersprache aller Menschen, zu entfalten.“ (Rauhe).
Den wissenschaftlichen Hintergrund steuert der Musikpsychologe Karl Adamek, Vorstandsvorsitzender von „Il canto del mondo“, bei. In einer Studie zur Auswirkung des Singens auf das physische und psychische Wohlbefinden weist er anhand von umfangreichen Befragungen etwas nach, was dem gesunden Menschenverstand unmittelbar einleuchtet: Menschen, die regelmäßig „einfach so“ singen, fühlen sich ausgeglichener, fröhlicher und sind sogar gesünder als diejenigen, die zwar angeben, gerne zu singen (das sind 90 Prozent aller Befragten!), es aber nicht tun.
In diese Richtung deutet auch der Deutsche Musikrat mit seiner Entschließung vom Oktober 1998: „Verzicht auf das Singen im Kindesalter, insbesondere auch im frühen Kindesalter, hat erhebliche Folgen für die Entwicklung der Persönlichkeit und ihre emotionale Prägung.“ Bleibt die Frage, ob der „homo cantans“ – so ein Begriff Adameks – grundsätzlich auch der bessere, friedfertigere Mensch sei. Dass die im Volksmund überlieferte Beschwichtigung, sich dort, wo man singt, ruhig nieder zu lassen, weil böse Menschen keine Lieder hätten, haltlos ist, bedarf jedenfalls keines weiteren Beweises. „Der Verein führt Projekte durch, die dazu beitragen, über jegliche Instrumentalisierung des Singens von Seiten eines Staates, von Institutionen oder von organisierten Gruppen zum Zwecke der Manipulation von Menschen aufzuklären.“ Dieser wichtige Passus aus der Vereinssatzung macht die Problematik nur allzu deutlich. Insgesamt betrachtet, wird sich der Erfolg der Initiative daran messen lassen müssen, ob es ihr gelingt, Menuhins eindringlich formulierte Zuversicht – so sympathisch sie sein mag – mit der notwendigen Bodenhaftung zu versehen: „Wenn einer aus seiner Seele singt, / heilt er zugleich seine innere Welt. / Wenn alle aus ihrer Seele singen / und eins sind in der Musik, / heilen sie zugleich auch die äußere Welt.“
Dieses Dilemmas ist sich Adamek durchaus bewusst: „Da ist auf der einen Seite ein riesiges Vorhaben, eine weitgespannte Idee und auf der anderen Seite nur ein paar Menschen, die dies zu realisieren versuchen.“ Im Gespräch betont er aber, dieses utopische Moment sei ganz bewusst in einer Zeit formuliert worden, in der die Sichtweise vorherrsche, „es habe ja doch alles keinen Sinn“. Als Bilanz der bisherigen Arbeit verweist er auf die gut hundert Mitglieder des Vereins und die Öffentlichkeitsarbeit, die im letzten Jahr geleistet worden sei. Man habe zunächst das gesellschaftliche Bewusstsein dafür schaffen wollen, dass das Singen wichtig sei – nur so könne die Initiative an Boden gewinnen. Weitere Planungen betreffen unter anderem die Mitwirkung an einem kooperativen Aufbaustudiengang für Musiker im Bereich des Public-Health-Konzeptes der Weltgesundheitsorganisation sowie die Auswertung und praktische Umsetzung einer breit angelegten Untersuchung zum Singen im Kindergarten. Die Orte, von denen aus sich das „Singen als Alltagsverhalten“ neu konstituieren soll, sind die sogenannten Canto-Gruppen (bisher sechs im Bundesgebiet). Hier soll „auf Zuruf“ gesungen werden, die Leiter/-innen müssen eigentlich nur in der Lage sein, singend zu begleiten und ein großes Repertoire auf Lager haben. Weitere Interessierte, die sich das zutrauen, werden noch gesucht.
Adameks Antwort auf die Frage, aus welchen Quellen sich das Liedrepertoire speisen soll, lautet: „Jegliche Art von Musik, die singbar ist, die das spontane, das leichte Singen fördert und die den inhaltlichen Wertekriterien, die das Statut benennt, gerecht wird.“ Dort sind folgende Prinzipien aufgeführt, denen sich die Initiative verpflichtet fühlt: die Wertschätzung der Person und der kulturellen Vielfalt, die Wahrhaftigkeit, die Weltfriedensordnung sowie Achtung und Gewaltlosigkeit gegenüber allem Lebendigen. Es bleibt allerdings der eigenen Interpretation überlassen, wie sich etwa der Passus zur Wahrhaftigkeit im gesungenen Repertoire niederschlagen mag: „Es gibt im physiologischen und im geschmacklichen Sinne mehr oder weniger gute Techniken des Singens. Der Wert des Singens als Alltagskultur offenbart sich am Grade seiner Wahrhaftigkeit als wahrer oder genauer gesagt, als unverstellter und ungeschminkter Ausdruck der Person.“ Adamek legt jedenfalls Wert darauf, dass niemand ausgegrenzt werden soll. Damit entkräftet er auch den Einwand, ob die ohnehin schon zersplitterte Musikverbands- und Vereinslandschaft eine weitere Interessenvertretung überhaupt braucht oder verträgt. Man sei offen für Zusammenarbeit mit allen, die an der Idee teilhaben wollten, habe aber bisher keinen Verband gefunden, der sich ihre Vision zu eigen habe machen wollen. Mit der Person Hermann Rauhes und weiteren Vorstandsmitgliedern aus verschiedenen Fachbereichen dürfte die Gefahr eines Sektierertums allerdings gering sein. Der Verein versteht sich vor allem als Diskussions- und Anregungs-Forum für jede Art von Engagement, die das Singen, aber auch die Musikalität in einem allgemeineren Sinne fördert.
Die Aktivitäten der kommenden Monate und das damit ausgelöste Echo werden wohl mit darüber entscheiden, ob die Initiative der Gefahr entgeht, im gut Gemeinten stecken zu bleiben und das Visionäre sich nachhaltig Bahn bricht.