Den Laptop aufmachen, statt die Tür zum Unterrichtsraum – heute ist das auch an vielen Musik- und Musikhochschulen eine Selbstverständlichkeit. Einer der wenigen positiven Aspekte der pandemiegeprägten Jahre ist die digitale Transformation der Musiklandschaft. Im Vergleich zu anderen lag die Musikbranche bisher um 10 bis 15 Jahre zurück, Anfang März 2020 erlebte auch der Musikunterricht einen unerwarteten Quantensprung. Für den in der Instrumental- und Vokalpädagogik notwendigen Fernunterricht kommen vermehrt Videokonferenzsysteme wie Skype, Zoom und Jitsi zum Einsatz. Etliche Herausforderungen beim Online-Musikunterricht erschweren dabei die Situation. Wenn eine instabile Internetverbindung bewirkt, dass ein durchgängiger Viertelpuls zur Halben mit anschließender Achteltriole wird oder wenn das Programm die Flötentöne in der dreigestrichenen Oktave als Störgeräusche klassifiziert, dann leidet die Qualität des Unterrichts.
Die auf Sprache optimierten Konferenzsysteme sind in vielerlei Hinsicht ungeeignet für einen zufriedenstellenden Fernunterricht der Vokal- und Instrumentalpraxis, stellte auch Sebastian Riegelbauer fest. Der Enkel Karlheinz Stockhausens stammt aus einer höchst musikalischen Familie: Die Eltern sind beide Mitglieder der Berliner Philharmoniker, der Vater leitet die Karajan-Akademie. „Der Musik kam immer eine besondere Rolle zu“ betont Riegelbauer, der sich für die Musik als Hobby und den Studiengang „Robotics, Cognition, Intelligence“ entschied, ein technisches Studium mit einem Schwerpunkt auf künstlicher Intelligenz. Gemeinsam mit seinem Vater und den Musiker*innen der Karajan-Akademie, die Anfang 2020 eine professionelle Lösung für den Distanzunterricht suchten, entwickelte Riegelbauer das auf Musikunterricht spezialisierte Konferenzsystem Sirius. Das 2021 von der Bundesregierung mit dem „Kultur- und Kreativpiloten“-Preis ausgezeichnete Projekt unterstützt mittlerweile über 30 Musikschulen und 10.000 registrierte Musiker*innen. „Das Projekt habe ich in meiner Freizeit angefangen, um im Freundes- und Familienkreis zu helfen. Dass das mal eine Plattform werden könnte, die deutschlandweit Musikschulen und -lehrkräften helfen würde, war so überhaupt nicht geplant“, erzählt Riegelbauer.
Klang ist nicht gleich Klang
In Konferenzsystemen wie Zoom oder Skype werden zur Hervorhebung der Sprache meist Audiofilter und Kompressionsmechanismen eingesetzt. Diese haben allerdings in der Übertragung von Musik eine Beeinträchtigung des Klangs zur Folge. Ziel von Sirius ist es, den vom Mikrophon aufgenommenen Ton ungefiltert und unkomprimiert in einer möglichst hohen Audiobandbreite zu übertragen (bis zu 192 kBit/s). Die Audiokomponente ist gegenüber der Videokomponente priorisiert – was im Falle einer schwachen Internetverbindung bedeutsam wird.
Eine Leitlinie der Entwickler besteht in der „Barrierefreiheit“ des Systems – sowohl Schüler*innen als auch Lehrer*innen sollen sich in Sirius möglichst intuitiv und problemlos zurechtfinden, ohne dass spezielle Hardware oder besonderes technisches Know-How nötig sind. Optional kann mit zusätzlicher Ausstattung für technisch Interessierte das Klangergebnis weiter optimiert werden. Das Programm ist browserbasiert, für die Nutzung muss keine Software heruntergeladen werden; eine Einladung zum digitalen Unterrichtsraum erfolgt per Link. Die Minimalausstattung für den User oder die Userin besteht wie bei anderen Konferenzsystemen aus einem Gerät mit Internetzugang sowie Kamera und Mikrophon. Riegelbauer empfiehlt für die Nutzung von Sirius Kopfhörer und ein externes USB-Mikrophon, das erheblich zur Verbesserung der Klangqualität beitrage.
Wer technisch auf bestmöglichem Niveau arbeiten möchte, sollte sich ein Setup mit Studiomikrophonen und Interface einrichten. In der Unterrichtssituation, in der sich Sprech- und Spielzeiten abwechseln, kann zudem eine sogenannte Broadcast-Station verwendet werden. Die Broadcast-Station der Firma Instru.rent wurde speziell modifiziert und beinhaltet eine Soundkarte von Yamaha sowie ein Rode-Kondensatormikrophon und ein Lavalier-Sprachmikrophon, die mit dem Desktop-PC verbunden werden. Je nach Unterrichtssequenz kann mit einem integrierten Wechselpedal das jeweilige Mikrophon für Stimme oder Instrument ausgewählt werden. So können beispielsweise Lautstärkedifferenzen zwischen Instrumentalspiel und Stimme austariert werden.
Eine der größten Herausforderungen des Online-Musizierens ist und bleibt die Latenz – unüberwindbar für jedes technische System. Aktuelle technische und physikalische Bedingungen lassen eine vollkommen latenzfreie Datenübertragung nicht zu. Mit speziellen Programmen wie JamKazam oder Digitalstage wird versucht, die Latenzzeit mittels zusätzlicher Hardwarekomponenten auf 20-30 Millisekunden zu reduzieren, was ein nahezu zeitgleiches Musizieren ermöglicht. Das 2020 initiierte Forschungsprojekt „LIPS“ zum beinahe latenzfreien Musizieren der Hochschulen München und Hannover setzt die Latenzzeit für optimale akustische Bedingungen auf unter 10 Millisekunden an; in diesem Bereich wäre die Latenz für die Musizierenden nicht mehr spürbar.
Mit der sogenannten Peer-to-Peer-Verbindung, bei der die Audio- und Videodaten nicht über einen Server, sondern direkt von Gerät zu Gerät der Benutzer*innen ausgetauscht werden, erlangt Sirius bei üblichen Bedingungen eine Latenz von 60-80 Millisekunden, in Abhängigkeit von der Internetverbindung.
Der technische Aufwand, der für gemeinsames Musizieren benötigt wird, könne aktuell von Lehrkräften und Schüler*innen nicht erwartet werden, meint Riegelbauer, für die Online-Unterrichtssituation wird zukünftig mit Playalongs (beispielsweise eine von der Lehrkraft vorbereitete zweite Stimme) als Feature für die Schüler*innen geplant. Das Start-Up-Unternehmen implementierte im Laufe der Entwicklung bereits musikspezifische Tools wie Metronom und Stimmgerät. Für das Frühjahr ist eine Whiteboard-Funktion geplant, auf der Schüler*in und Lehrer*in beispielsweise Noten annotieren und diese dann herunterladen können. Für die Lehrkraft könnte eine Audiothek mit den aufgenommenen Playalongs entstehen. Riegelbauer denkt auch daran, Musikunterricht mit künstlicher Intelligenz zu kombinieren: „Ich komme ja aus dem KI-Bereich, deswegen habe ich da auch die eine oder andere spannende Entwicklung im Kopf. Sei es das Mitlesen, Zuhören und Analysieren des Gehörten, interaktives Feedback, eine automatisierte Zusammenfassung der Unterrichtsstunde als Ergebnissicherung für Schülerinnen und Schüler bis hin zur Musikschule im Metaverse.“ Inwieweit dieses Assistenzsystem für die Lehrkraft tatsächlich praxisrelevant ist, wird sich in Zukunft herausstellen.
Zukunft der digitalen Musikschule
Dass die Notwendigkeit des flächendeckenden Distanzunterrichts mit der Coronapademie einherging, bedeutet keinesfalls, dass die Online-Lehre mit dem Ende der Pandemie wieder von der Bildfläche verschwindet. „Für viele Menschen schaffen wir durch Onlineunterricht auch erst den Zugang zu musikalischer Bildung, weil sie in ihrem Ort nicht den Lehrer für das Instrument finden, das sie lernen möchten. Und so können wir hier wirklich Brücken schlagen, aber auch auf Lehrerseite eine Plattform geben, noch mehr Schüler unterrichten zu können. Und wir sehen generell, dass so ein Videokonferenzsystem für den Musikunterricht als Grundausstattung für die Musikschule von morgen dazugehört“, meint Riegelbauer.
Innere Differenzierung
Mit Online-Unterricht als Alternative kann auf individuelle Bedürfnisse der Schüler*innen eingegangen werden, wenngleich der Präsenzunterricht nicht zu ersetzen ist. Diese Meinung vertritt Gerd Wagner, Leiter der Musikschulen Wagner in Koblenz. Die vor 20 Jahren gegründete Musikschule mit etwa 1.000 Schüler*innen wird den Online-Unterricht auch in Zukunft als integrierten Bestandteil anbieten. Wenn Schüler*innen leicht erkrankt sind oder beispielsweise nicht zur Musikschule gefahren werden können, kann auch kurzfristig auf die digitale Variante zurückgegriffen werden. Als Mixvariante im Sinne des „Blended Learnings“ können sowohl Vorteile des Präsenz- als auch des Online-Unterrichts genutzt werden. „Blended Learning“ oder „Hybrides Lernen“ bezeichnet ein Modell der Kombination aus analoger und digitaler Lehre, bei dem Methoden beider Lernsettings zur Anwendung kommen.
Auch Kooperationen mit Schülern und Schülerinnen im Ausland sind seit einiger Zeit ein Teil des Unterrichtsangebots. Wagner betont die neu entstehende Flexibilität, auf individuelle Bedürfnisse reagieren zu können, und sieht auch im „Blended Learning keinen nachteiligen Effekt, im Gegenteil. Das ist eher bereichernd, wenn beispielsweise eine Schülerin im Klavierunterricht zuhause auf dem eigenen Instrument spielen kann.“
Generell werden in Koblenz alle Konferenzsysteme genutzt, die dem Schüler/der Schülerin entgegenkommen. Seit einiger Zeit stellt die Musikschule auch Sirius zur Verfügung. Von den Möglichkeiten des Programms profitiere der Online-Unterricht besonders in Fällen, in denen ausschließlich auf Distanz unterrichtet wird, so Wagner. Je mehr Teilnehmende es im Unterricht gebe, desto schwieriger werde es allerdings: „Man ist immer sehr davon abhängig, dass jeder dieser Teilnehmer eine gute Verbindung hat, damit die Gruppe stabil ist“.
Das Start-Up-Programm stellt eine Alternative zu bestehenden Konferenzsystemen dar, die kostenlose Starter-Version ist durch ein Teilnehmer- und Zeitlimit begrenzt, die Kosten für einen unbeschränkten Zugang liegen bei ca. 10-13 Euro im Monat, je nach Abonnement. Für Institutionen sind Angebote mit individuellen Lizenzen möglich.
Neben der Klangqualität kommt dem Datenschutz bei Sirius eine hervorgehobene Rolle zu – „Musikunterricht im geschützten Raum“, heißt es auf der Homepage von Sirius. Bei der P2P-Technologie findet der Datenaustausch direkt von Computer zu Computer statt, im Gegensatz zum sogenannten Client-Server-System. Dadurch ist Sirius abhörsicher und entspricht den Richtlinien der Datenschutzgrundverordnung DSGVO.