Die Konzertserie „BachBewegt!“ der Bachakademie Stuttgart existiert seit 2013 und hat sich in dieser Zeit als eines der großen Musikvermittlungsprojekte im süddeutschen Raum einen Namen gemacht. Die jüngste Aufführung von Bachs Matthäuspassion als Tanzinszenierung geht über das Bemühen um professionelle Musikvermittlung weit hinaus und steht beispielhaft für das Wirken des Bachakademie-Reformators Hans-Christoph Rademann.
Bei der Premiere der vertanzten Passion Anfang März konnte man alle Ingredienzien seiner Lesart des Bach’schen Oeuvres kennlernen. Seit der Saison 2016/17 firmieren die beiden Ensembles, Chor und Orchester der Bachakademie Stuttgart, unter einem einzigen Namen: Gaechinger Cantorey. Die altertümliche Schreibweise ist Programm: Rademanns Klangideal beruht – im Gegensatz zu dem seines Vorgängers Rilling – auf den Traditionen des 18. Jahrhunderts, er verwendet so weit wie möglich Barockinstrumente. Seine Choristen sind sowohl den Anforderungen eines Ensemblesängers wie auch eines Solisten gewachsen. Im Herzen des Gaechinger-Klangs, die große, neue Truhenorgel, gespielt von Michaela Hasselt, ein Nachbau eines Instruments aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das mit weichen, vollen Tönen das feste Fundament von Rademanns Musizieren ist.
Rademanns reformatorischer Eifer beschränkt sich nicht nur auf barocke Aufführungspraxis. Der Chef der Bachakademie will das Werk des Thomaskantors für den heutigen Hörer erlebbar machen, und dazu zählt neben authentischer Aufführungspraxis auch das großangelegte Vermittlungsprojekt BachBewegt!, das Friederike Rademann 2013 ins Leben rief. Für die Matthäuspassion 2017 studierten über 100 Stuttgarter Schüler aus Mittel- und Oberstufenklassen aller Schularten inklusive Förderschulen ein Jahr lang ihre Tanzschritte ein. Friederike Rademann arbeitete zunächst mit einzelnen Schülergruppen und überführte die Ensembles zuletzt in eine komplexe Choreographie für die große Bühne des Ludwigsburger Forums am Schlosspark.
Der Tanz profanisiert Bachs Passionsmusik im positiven Sinne und macht sie dadurch für die Tanzeleven aus den allgemeinbildenden Schulen leichter zugänglich – Tanzen befördert die historische Musik unmittelbar in die Lebens- und Erlebniswelt der Schüler. Weltlich auch der Aufführungsort: Das Ludwigsburger Forum am Schlosspark verfügt über keine Kirchenakustik, es ist ein schmuckloser modulabler Bühnenraum, bestenfalls mit der nüchternen Anmutung eines reformierten Gotteshauses. Dennoch ein idealer Raum für die bewegende Passionsmusik, die auf der ausladenden Bühne großzügig in Szene gesetzt wurde. Denn Rademann hat Bachs dialogisches Prinzip der Chöre und Orchester an diesem Ort auf die Spitze getrieben. Auf der großen Bühne des Forums stellt er ein Ensemble links nach vorne – vor den Vorhang gewissermaßen – und eines in die rechte hintere Ecke der Bühne – als Fernchor und Fernorchester. Den Eingangs- und Schlusschören verleiht er damit eine eigentümlich stereophonische Raumwirkung.
Tanz durchkreuzt Musik
Diese diagonale Achse der Musik durchkreuzt der Tanz – das Zeichen des Kreuzes stellt die formale Grundlage des Bühnenraumes dar und ist somit die einzige Reminiszenz an die liturgische Funktion des Passionsspiels. Das Bühnenbild ist äußerst schlicht: Ein weißes Band aus der Tiefe der Bühne, mit herabsteigenden Stufen am Anfang und am Ende kommt aus der Hinterbühne und reicht bis an die vorderen Zuschauerränge. Der Bühnenhintergrund bleibt konstant in hellem Blau ausgeleuchtet, nur in dem Moment als Jesus stirbt und der Vorhang im Palast des Statthalters zerreißt, leuchtet das riesige Rechteck blutrot.
Das Originalklangorchester mit Truhenorgel, Viola da Gamba, Traversflöten und Oboen d’amore sind in der glasklaren Akustik des Forums trotz ihres schlanken Klangs präsent – ergreifend und in deutlichem dynamischen Kontrast dazu die fünf Choral-Einwürfe „O Haupt voll Blut und Wunden“. Rademann erzielt hier der modernen Konzerthausakustik zum Trotz, die wirklich gar nichts vom gewohnten Kirchenraum-Überwältigungshall an sich hat, sensationelle Wirkung. Hervorragend auch die Vokal-Solisten, insbesondere Benedikt Kristjánson als Evangelist, Kresimir Strazanac als Jesus sowie der erst 2016 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnete Countertenor Benno Schachtner.
Sänger und Instrumentalisten überzeugten vorbehaltlos als Handlungsträger des Passionsdramas, das massenhafte Aufgebot von über 100 Tänzerinnen und Tänzern blieb dagegen im Illustrativen. Das wäre zu wenig, wenn es sich um Profitänzer handeln würde. Es sind hier aber Schüler auf der Bühne, die sich über ein Jahr der Musik Bachs mit ihren Mitteln genähert haben und dafür sind die Ergebnisse bemerkenswert. Von einfachen Mitmachszenen bis zu anspruchsvoll choreographierten Ensemble- und Soloeinlagen bietet Friederike Rademanns BachBewegt!-Compagnie hier eine frappierende Breite der Aktionen an.
Aneignung in der Gegenwart
Manche Tänzerinnen und Tänzer sind schon im dritten oder vierten Jahr bei BachBewegt! dabei und folglich dementsprechend geschult. Rademanns tänzerischem Wortschatz ist es anzumerken, dass er aus der Tradition einer Mary Wigmann oder Gret Palucca schöpft. Analog zur Musik aus dem 18. Jahrhundert sind für die jugendlichen Tänzer auch diese Kunstformen Ausdruck einer anderen Zeit. Die Aneignung der Leidensgeschichte Jesu mit den Mitteln des Ausdruckstanzes, verwandelt diese „alten Künste“ in etwas Zeitgemäßes, bringt sie im besten Sinne in die Gegenwart. BachBewegt! ist ein Mammutunternehmen, das auch dadurch nachwirken wird, dass die Arbeit mit den Schülern nach dem frenetischen Applaus und den Standing Ovations nicht abgeschlossen ist, sondern stetig und in neuen Projekten der Bach Akademie weiterverfolgt wird. Nicht nur Bach bewegt, auch die Rademanns haben viel bewegt in Stuttgart.