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„Man hat gar keine Alternative, als zu vertrauen“: Reinhard Kahl. Foto: K. Glücker
„Man hat gar keine Alternative, als zu vertrauen“: Reinhard Kahl. Foto: K. Glücker
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Die Schule mit Musik aufladen: Ein Gespräch mit dem Journalisten und Filmemacher Reinhard Kahl

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Beim Symposium „Musikunterricht(en) im 21. Jahrhundert“ hielt Reinhard Kahl den Eröffnungsvortrag und prangerte die „Normalverwahrlosung an Schulen“ an (siehe nmz 11/2012, Seite 15). Für die nmz hatte Heike Henning Gelegenheit den Journalisten und Filmemacher ausführlich zu befragen.

neue musikzeitung: Sie haben Ihren berühmten Film über vorbildhafte Schulen „Treibhäuser der Zukunft“ genannt und das, obwohl deutsche Schulen weder effektiv noch besonders schnell sind. Wie kamen Sie zu der Metapher?

Reinhard Kahl: Diesem Film ging ein anderer Film mit dem Titel „Spitze Schulen am Wendekreis der Pädagogik“ über Schulen in Skandinavien voraus. Es war die Nach-PISA-Zeit und so gab es häufig Äußerungen von Deutschen wie „ja wunderbar, aber leider sind wir keine Finnen“, was sinnbildlich für ein Gründefinden oder manchmal auch -erfinden stand, weshalb in Deutschland eigentlich nichts gemacht werden kann. Die Idee war zu zeigen, dass es auch in Deutschland eine Reihe von guten Schulen sowie Schulen, die Gutes machen, gibt. Es ist auch nicht möglich zu sagen, die Schulen sollen anders oder besser werden, wenn es von diesem Anderen nicht wenigstens Spuren oder etwas mehr gäbe. Der Titel „Treibhäuser“ deshalb, weil er die Notwendigkeit von Orten mit guter, starker Atmosphäre deutlich macht. Und die Herstellung und Gestaltung dieser guten Atmosphäre ist etwas, was in den deutschen Debatten zu selten vorgekommen ist.

nmz: Nach welchen Kriterien haben Sie die Schulen und Projekte ausgewählt?

Kahl: Es ist das Ergebnis eines Suchens – ein bisschen vergleichbar mit einer Liebe auf den ersten Blick. Man merkt, dass in diesen Schulen, an diesen Projekten etwas Besonderes, Gutes ist. Dann bin ich dem nachgegangen, und in manchen Fällen war die Witterung auch falsch. Es ist ein bisschen wie bei einem Rubbel-Los: Beim Reiben kommt etwas zum Vorschein, was gar nicht nach vorher definierten Kriterien ausgesucht wurde. Diese Kriterien waren eher unausgesprochen da und könnten nachträglich beschrieben werden. Hauptsache war, dass es sich dabei um Schulen handelt, in denen die Belehrung der Schüler durch Lehrpersonen dem Lernen der Schüler nicht im Wege steht, wie das häufig der Fall ist. In den ausgewählten Schulen lernen die Schüler selbst in dafür geeigneten Räumen, Zeiten und Arrangements. Zu viel Belehrung produziert eine Art Immunabwehr, wohingegen das Interesse und die Neugier der Lehrpersonen, vorausgesetzt sie besitzen diese, ansteckend sein können.

nmz: Sind sie denn ein Gegner von Curricula?

Kahl: Nein, für mich ist das keine Entweder/Oder-Frage. Meiner Beobachtung nach setzen sich Schulstrukturen und Curricula meist unter der Hand durch, ohne dass man sie bestimmen muss. Wie bei den Medien, wo freitags fünfzehn neue Filme ins Programm kommen und am darauf folgenden Dienstag jeder aus verschiedenen Quellen (Flüsterpropaganda, Rezensionen etc.) weiß, in welche Filme man reingehen sollte. Da braucht es kein Curriculum, das sagt, welcher Film gut ist.

nmz: Nun geht es bei Filmen, anders als bei Lern- und Bildungsprozessen, vorwiegend um Unterhaltung. Bildungs- und Lernprozesse zielen jedoch auf einen langfristigen Wert.

Das Wort „Stoff“ den Dealern überlassen

Kahl: Das wäre ja gut, wenn das, bezogen auf Schule, überlegt würde. Das wird es so aber gar nicht. Dazu muss man sich nur anschauen, wie viel Spezialwissen inzwischen unterrichtet wird, wovon wirklich alle wissen, dass die berühmte Halbwertzeit dessen ziemlich gering ist. Da entsteht bei mir der Eindruck, dass lediglich der Betrieb aufrecht erhalten und beschleunigt wird. Die Lehrer als Fachwissenschafts-Abkömmlinge fühlen sich für die Stoffvermittlung verantwortlich und betreiben einen Stoff-Kult mit zunehmender Gleichgültigkeit gegenüber der Art dessen Vermittlung und dessen Aufnahme. Das Wort „Stoff“ sollte den Dealern überlassen werden. Wir sollten uns eine Schule vorstellen, die nicht mehr darauf basiert, dass alle Schüler von bestimmten Sachen zumindest rudimentär das Gleiche können sollten, sondern deren Ideal die Unterschiedlichkeit der Schüler ist, so dass die verschiedenen Schüler am Schluss ganz Unterschiedliches oder Verschiedenes wissen und können. Hier schließt sofort die Frage nach Arbeitsteilung und Verständigung an, und dabei entwickelt sich so etwas wie ein Curriculum. Dazu brauchen wir zunächst eine Sprache, nicht irgendeine Impulssprache, sondern eine gute Umgangssprache. Diese ist das Hauptcurriculum, ergänzt um gute Fachsprachen und die Bereitschaft, das, was wir für wichtig halten, anderen mitzuteilen. Wenn eine solche „Aufladung“ der Schulen geschieht, muss man sich um das Curriculum keine so großen Sorgen machen. 

nmz: In der Musikpädagogik wird in Bezug auf ein gemeinsames bleibendes Kulturgut immer wieder kontrovers diskutiert, ob hierfür ein verbindlicher Kanon von Liedern und Werken notwendig ist. Heute wird in manchen Kreisen lamentiert, dass Kinder gar nicht mehr singen, und wenn, dann nur moderne Lieder, und dass so die Generationen im Singen kaum mehr verbindbar sind.

Kahl: Natürlich muss man Lieder kennen, die man gemeinsam singt. Wo jedoch wirklich gemeinsam gesungen wird, sind sie doch da. Wenn man sie nur deswegen gemeinsam singt, weil sie im Curriculum stehen, dann kann man es auch lassen. Ich glaube, dass gemeinsames Singen so nicht entsteht. Es gibt doch ein paar Lieder, die alle kennen, so etwas wie „Hänschen klein“ oder „Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald“. Wie hat sich denn so ein Lied wie „Die Gedanken sind frei“ durchgesetzt? Jedenfalls nicht dadurch, dass es in einem Curriculum stand. Wenn man erlebt, dass keine Lieder mehr gemeinsam gesungen werden, was ich auch bedauern würde, dann muss überlegt werden, wie Lieder gemeinsam gesungen werden können. Was drückt sich in diesem Phänomen an Generationsverhältnissen oder Nicht-Generationsverhältnissen aus? Man kann es nicht dekretieren: Ein Curriculum muss durch Ansteckungsvorgänge in Gang kommen, nicht durch Kopierauflagen! Und ich glaube, dass die Kopierauflage dem Ziel mehr im Weg steht als es zu befördern.

nmz: Wie sieht denn Ihre Vision von musikalischer Bildung im 21. Jahrhundert aus?

Kahl: Egal ob im 21., 22. oder 23. Jahrhundert: Ich würde mir vorstellen, dass, wenn die Kinder und Erwachsenen morgens in die Schule kommen, vielleicht eine halbe Stunde lang Musik in der Luft ist. Dass ein paar Instrumente klingen, die sich aus den verschiedenen Ecken des Hauses etwas zurufen. Vielleicht gibt es auch etwas, was ein paar Leute singen wollen. Dann darauf setzen, dass andere mitmachen. Entscheidend ist für mich, dass Musik in Schulen gebracht wird, die doch überhaupt nur existiert, wenn sie zwischen den Menschen und in der Luft ist. Wie bringt man sie in die Luft? Wie bringt man sie in die Schulräume? Wie bringt man sie in und zwischen die Wände? Auf keinen Fall nur, indem Kinder von 10.00 bis 10.45 Uhr Musik haben. Weitere Fragen sind: Wie nehmen wir die Musik in die Schule hinein, wie lieben wir sie, wie versuchen wir, sie präsent zu machen? Und wenn wir sie präsent machen, dann stellt sich ja auch die Frage, was man dafür tun muss, dass man gut musizieren kann. Diese Frage kann man gar nicht streichen, im Gegenteil, wenn man auftritt, sollte man gut auftreten. Man sollte so auftreten, dass es gut ist. Im wohlgemerkt zweiten Schritt muss der Musikunterricht wichtig gemacht werden. Primär geht es darum, die Musik wichtig zu machen. Viele Leute werden sich daran erinnern, wie ihnen Musik, Kunst, Mathematik – da kann man jetzt alle Fächer aufzählen – durch Unterricht verleidet wurden. Warum sind wir denn so sicher, dass etwas eine positive Wirkung bekommt, dadurch, dass es zum Unterricht gemacht wird? Man könnte sich Prof. Dr. Baumert vom Max-Planck-Institut anschließen, der sagen würde: „Lieber eine Stunde schlechten Musikunterricht weniger als eine mehr.“ Ja!

nmz: Aber besser wäre ja, eine gute Musikstunde mehr. Was macht eine Unterrichtsstunde denn gut? An was ist Musikunterricht auszurichten? In der Musikpädagogik wird derzeit versucht, das eigene praktische Musizieren der Kinder in unterschiedlichsten Formen zu stärken, so dass sie selbst der Ursprung und Schöpfer von Musik sind. Die Orientierung am Kind ist dabei vielleicht höher zu bewerten als die an der Musik als Kunstform – oder zumindest gleich. Kennen Sie die Problematik, von der ich spreche?

Kahl: Nein, ich habe vielleicht auch das Glück, in solche Grabenkämpfe nicht verwickelt zu sein. Ich glaube, es geht zunächst darum, Kindern die Möglichkeit zu geben, Musik kennen zu lernen. Natürlich kennen sie Musik schon aus dem Radio. Dazu braucht man nicht erst die Schule. Dort sollte sie jedoch im, aber auch außerhalb des Unterrichts kultiviert werden.

nmz: Außerhalb des Unterrichts, aber in der Schule?

Musik stattfinden lassen

Kahl: Ja, man kann auch aus der Schule rausgehen, woanders hin, aber die Schule ist nun mal der Ort, wo die Kinder ihre Zeit verbringen. Das Wichtigste ist, dass die Erwachsenen diese „Sachen“, egal ob Musik oder Mathematik, durch ihre Person beglaubigen müssen. Von ihrer Person sollte etwas überspringen, denn Lernen ist an Personen gebunden. Solche geeigneten Personen müssen Schüler kennen lernen können. Professionelle Lehrer müssen immer ein Stück Schulmanager oder Menschensammler sein, die andere Erwachsene, die keine professionellen Lehrer sind und sein sollten, in die Schule holen und einbeziehen. Also nicht den Künstler, der dann zum Kunstlehrer wird, sondern auch einen, der Künstler bleibt. Schüler brauchen die Chance, unterschiedliche Erwachsene, die etwas können und wichtig finden, kennen zu lernen. Egal, ob das jetzt in der Schule oder Musikschule ist.

nmz: Aber welche Aufgabe hat dann überhaupt noch der eigentliche Lehrer oder ist dieser dann überflüssig?

Kahl: Nein überhaupt nicht: Er organisiert die Schule, lernt die Kinder kennen und mag sie. Er versteht etwas von Lernprozessen und darüber, dass sie nicht immer auf geraden Wegen verlaufen, so wie man sich das wünscht. Musiklehrer sind dafür verantwortlich, dass in der Schule Musik spielt und unterrichtet wird. Musik muss man stattfinden lassen, und zwar nicht nur als Konzert vor Weihnachten. Musik selbst muss wichtig sein!

nmz: Die fachdidaktische Kompetenz scheint auch in den Untersuchungen Baumerts die Kernkompetenz der Lehrer zu sein. Das spricht jedoch für fachspezifische Lehrer, die fähig sind, entsprechende Inhalte zu transferieren. Die Musiklehrperson kann ein wichtiges Medium zwischen Kunst, Künstler und Kind sein.

Kahl: Ich würde da ein kleines Fragezeichen setzen. Es geht um eine Lehrkunst… Lehren ist wie ein gutes Handwerk, ebenso eine Sache, die um ihrer selbst willen gemacht werden will. Es liegt eine gewisse Erotik in dieser und jeder anderen handwerklichen Tätigkeit, die in die Schule zurück oder reingeholt werden soll. Sie taucht immer wieder auf, aber leider noch als Minderheitsbeimischung.In einer Schule, in der die Musik und verschiedene Varianten von Musikunterricht wichtig sind, muss die Musik selbst als Bestandteil der Schule wichtig sein. Hierfür kann man sich einiges an musikalischer Inszenierung und Einbeziehung von Leuten, die etwas gut können, überlegen. So wird eine Aufladung der Welt durch Musik spürbar… und kein Musikunterricht, in dem man in Analogie zum Sprachunterricht über das Alphabet nicht so richtig hinauskommt.

nmz: Was macht denn aus Ihrer Sicht einen guten Musiklehrer aus?

Kahl: Also ich glaube, ein guter Musiklehrer oder einer, der in der Schule für Musik zuständig ist, macht und ermöglicht Musik in der Schule – auch außerhalb des Musikunterrichts. Er schafft Räume für ein angenehm erlebtes Üben; ein Üben als eine Art Selbststeigerung, Kultivierung und positiver Selbsterfahrung, auch wenn Üben nicht nur süß ist. Dazu gehört ein positives Verhältnis zum eigenen Leib. Also nicht nur, einen Körper zu haben, sondern einer zu sein. Musik als eine Wahrnehmung der Sinne und ein „in Schwingung geraten“. Musiklehrer sind Agenten der Musik und Anwälte kreativer Ideen.

nmz: Welche Rolle spielt Musik und ästhetisches Lernen in Ihrer Vision von Bildung?

Kahl: Sie sind das Hauptfach: Musik, Theater, aber auch handelnde Projekte. Schulen sollen Brachflächen in der Gegend oder Verkehrsinseln adoptieren und bepflanzen und pflegen. Das ist mehr als dienstags hingehen und Unkraut rausreißen. Wichtig dabei ist, dass Interesse daran besteht, die Welt zu verschönern.

nmz: Ihre Haltung ist geprägt von einem riesigen Vertrauen in die Menschen und ins Leben. Vertrauen wird immer wieder enttäuscht. Wie hat sich das Ihrige entwickelt?

Kahl: Man hat gar keine Alternative, als zu vertrauen. Vertrauen entsteht dadurch, dass man es anderen schenkt. Man kann es nicht verlangen, sondern muss es geben und darauf setzen, dass es beantwortet wird. Wenn es einmal enttäuscht wird, dann sollte man das Geben intensivieren und wenn es zwei- oder dreimal enttäuscht wird, muss man sich vielleicht trennen. Auch in einer Institution muss man die Möglichkeit haben, sich zu trennen oder Nein zu sagen, das ist ein wichtiges Element und gehört mit zum Aufbau von Vertrauensverhältnissen dazu. Menschen wollen eine Sache grundsätzlich gut machen. Es sind Formen der Schwäche, wenn sie es nicht schaffen. Jemand, der lügt, tut es aus einer Schwäche, nicht aus einer Bosheit heraus.

nmz: Aber wie gehe ich als verantwortliche Lehrperson mit Lügen der Schüler um?

Kahl: Ich muss die Personen besser kennen lernen und wissen, dass auch dies dazu gehört. Menschen sind nun mal so. Wenn man sie an ihrer Perfektion misst, müsste man sie alle verurteilen. Kindern kommen doch (mit ziemlich wenigen Ausnahmen, die man meis-tens gut erklären kann) enorm freudig und voller Erwartungen in die Schule. Sie wollen etwas lernen und sind liebenswürdig. Wenn sie das nicht bleiben, liegt das nicht auch ein bisschen an der Schule? Im Zeitalter der Industriegesellschaft scheint Kontrolle viel wichtiger als Vertrauen. Wir brauchen einen Kulturwandel von einer Misstrauens- zu einer Vertrauenskultur.

Interview: Heike Henning

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