„Bitte so leise sein, dass man die Baustelle hört!“, ruft Musikpädagoge Jürgen Kruse streng, und endlich kehrt Ruhe ein im Saal 2 des Stuttgarter Theaterhauses, so dass man aus der Ferne leises Hämmern und Bohren hören kann. Nicht ganz einfach, die vielen Kinder und Jugendlichen, die auf der oberen Zuschauertribüne auf ihren Einsatz warten, zum völligen Schweigen zu bringen. Dafür funktioniert aber dann das geforderte Sprechgewirr aus „gespuckten Konsonanten“, das improvisierend den dritten Satz von Peteris Vasks’ Sinfonie „Stimmen“ einleiten soll, nach ein paar Durchgängen schon recht gut. Es wird gerade geprobt für das aktuelle Musik- und Tanzprojekt der Jugendvermittlungssparte des Stuttgarter Kammerorchesters (SKO): für das „SKOhr-Labor: Stimmen“, das am darauffolgenden, letzten Juniwochenende im Theaterhaus drei ausverkaufte Aufführungen erleben wird.
Als das SKO schmerzvoll singende und bohrende Töne hören lässt, betritt ein junger, schlanker, schwarzhaariger Mann die Bühne. Ausdrucksvoll nach oben recken sich seine Arme, sein Körper windet sich elegant zu den Trauerklängen, das Gesicht konzentriert, hingebungsvoll, die Glieder gespannt. Die Hände rudern, schöpfen, er dreht sich immer wilder, und plötzlich, als die Streicherstimmen sich mehr und mehr dissonant ineinander verweben, schreiten die Kinder und Jugendlichen in Zweierreihen an den Seiten entlang auf die Bühne und bilden dort eindrucksvoll einen immer dichter werdenden Strudel, in dem der junge Mann langsam verschwindet. Die Assoziationen der Zuschauer werden in eine deutliche Richtung gelenkt: Verzweiflung, Flucht, Hoffnung, Tod.
Der hochbegabte junge Tänzer heißt Abdalrahman. Der Syrer lebt seit neun Monaten in einem Flüchtlingsheim in Esslingen. Er floh alleine aus dem kriegsgebeutelten Damaskus zu Fuß, mit dem Schlauchboot und schließlich mit dem Bus nach Deutschland. Der 22-Jährige hat gerade ein Praktikum als Krankenpfleger absolviert. Er hat seine Leidenschaft für den Tanz als Jugendlicher entdeckt. In Syrien hat er sich regelmäßig in einer Tanzgruppe getroffen. „Zum Spaß“, erzählt er, „wir haben alles getanzt: Ballett, Breakdance, Hip Hop“. Vom „SKOhr-Labor“ hat er über seine Deutschlehrerin vor fünf Monaten erfahren. Seitdem lässt er keine Probe, keinen Workshop aus. Was dieses Projekt ihm bedeute? Er lächelt, seine Augen strahlen: „Es ist einfach wunderschön. Ich liebe das Tanzen. Ich bin so glücklich.“
Über 100 Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichsten Schulen aus Stuttgart und Umgebung bringt das „Stimmen“-Projekt auf der Bühne zusammen: Kids und Teenager aus der Helene-Fernau-Horn-Schule für Sprachbehinderte, den Waldorfschulen in Pforzheim und Ludwigsburg, der inklusiven Betty-Hirsch-Schule für Sehbehinderte und Blinde, der 4b der Rosenschule und der Werkrealschule Rosensteinschule, außerdem machen junge Flüchtlinge aus einer Internationalen Vorbereitungsklasse mit und weitere Jugendliche mit Fluchthintergrund.
So auch der 17-jährige Enayatulah aus Afghanistan. Er ist seit zwei Jahren in Deutschland. „Tanz ist mein Hobby“, sagt er, „ich bin sehr glücklich, dass ich hier endlich tanzen kann. Denn in meinem Heimatland ging das nicht, weil Tanzen dort verboten war.“ Dreieinhalb Monate dauerte seine Flucht. „Niemand will sein Heimatland verlassen“, sagt er traurig, „aber ich hatte dort kein Leben, keine Zukunft. Meine Mutter hatte Angst um mich und drängte mich zur Flucht.“
Dass hier gerade mit Musik des lettischen Komponisten Peteris Vasks gearbeitet wird, erstaunt zunächst. Gewöhnlich hört man in solchen Musikvermittlungsprojekten rhythmusbetonte Musik à la „Le sacre du printemps“ oder „Carmina burana“. Vasks’ Musik ist das genaue Gegenteil. Man hört Finsternis, Melancholie und Ausweglosigkeit, schmerzhafte Dissonanzballungen, extreme Verdichtungen, abrupte Stillstände. Aber auch ganz plötzlich einen Lichtstrahl, der im Helldunkel der getragenen Klangfolgen aufblitzt. Vasks’ Musik ist geboren aus dem Leiden des lettischen Volkes unter der Sowjetherrschaft, aber auch aus dem unbedingten Freiheitswillen, der Lettland schließlich 1990 in die Unabhängigkeit führte.
Matthias Foremny, SKO-Chefdirigent und Initiator des „Stimmen“-Projekts, hat ganz bewusst die Musik des heute 70-jährigen Komponisten gewählt: „Sie erschließt sich den Zuhörern sofort, trifft sehr direkt ins Herz und in den Kopf, weil es eine sehr melodiös geprägte, kantable Musik ist. Mit ihren heftigen, changierenden Klangflächen ist sie optimal für unser Projekt.“ Und sie decke sich thematisch perfekt mit der Choreographie, die Stimmen aus verschiedenen Ländern vereine. Im dritten Satz „Stimmen des Gewissens“ gehe es gar um Umweltkatastrophen und Krieg. Brandaktueller könne Musik gar nicht sein.
„Mit den Proben und Workshops ging es schon im vergangenen September los“, erzählt Katharina Gerhard, die das SKOhr-Labor zusammen mit der Geigerin Ulrike Stortz konzipiert und organisiert hat – in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart und mit Open_Music e.V., einem Netzwerk aus Musikvermittlern und -pädagogen. Das sechsköpfige Team, das für die künstlerische Seite zuständig ist, ging an die Schulen und arbeitete dort mit den Schülern und Schülerinnen in Gruppen: der Schauspieler Luis Hergón, die Violinistin Ulrike Stortz, der Pianist Jürgen Kruse und der Klarinettist Felix Behringer. Für die Choreographie zeigt sich der Tanzvermittler und -pädagoge Adrian Turner verantwortlich, der an diesem Probentag im Theaterhaus besonders gefordert ist. Für ihn steckt in dem Projekt die große Utopie einer „Weltbühne“: „Diese Menschen auf der Bühne, so verschieden sie sind, so unterschiedlich ihre Herkunft ist, teilen eine neue Zukunft miteinander. Das ist ein Abbild unserer Gesellschaft. Sich gegenseitig zu begleiten, sich zu berühren, Respekt vor dem anderen zu entwickeln: Darum geht es in meiner Choreographie, um Menschen und Menschlichkeit“, erklärt er, und seine Begeisterung für die Sache zieht einen sofort in Bann. Der gebürtige Brite arbeitet mit sehr klaren Bildern: Vasks stelle in seiner Musik die Natur da und versuche dies in unterschiedliche Stimmungen zu übertragen, erklärt er. „Ich selbst denke dabei immerzu an Wasser und Fluss, große Wellen und kleine Korallen.“
Die Jugendlichen setzen das um in Gruppen zu fünfzig oder in kleinen „Solistenensembles“ – wie jenes der sechs Schülerinnen der Waldorfschule Ludwigsburg. Zusammen mit vier geflüchteten Jungs, darunter auch Abdalrahman und Enayatulah, bringen sie sehr beeindruckende Pas de deux auf die Bühne, die sie an einem intensiven Probenwochenende im Schwarzwald einstudiert haben. Dort haben sie sich alle näher kennengelernt. Und so erwachsen aus diesem Projekt auch ganz natürlich neue Freundschaften: Maren (18) aus Deutschland und Abdulhayi (18) aus Äthiopien gehen jetzt öfters am Wochenende gemeinsam in die Disco.
Ein paar Tage später ist Premiere. Das künstlerische Niveau, auf dem sich dieser Abend abspielt, ist beeindruckend. Auch was die feinnervigen Klang- und Stimmimprovisationen der Schüler und Schülerinnen angeht, die zwischen den drei Sätzen von Vasks’ sehr dicht komponierter Sinfonie die Ohren des Publikums wieder putzen für das Kommende.
Aber vor allem berührt das Miteinander im Tanz, in der Bewegung, im Körperlichen. Keine Frage: Da haben Adrian Turner und sein Team ganze Arbeit geleistet. Man vergisst sehr schnell, dass da junge und jüngste Laien auf der Bühne stehen. Wie die Kinder und Jugendlichen sich der Musik und dem Augenblick hingeben, aufgehen in der gro-ßen Gruppe, mit höchster Konzentration, von der kleinsten Grundschülerin bis zum größten Oberstufler: Das trifft direkt ins Herz – wie die hochemotionale Musik von Peteris Vasks. Ob hell- oder dunkelhäutig, ob Junge oder Mädchen, ob blind oder sehend, ob Muslimin oder Christ – Unterschiede spielen keine Rolle an diesem Abend. Es zählt das Miteinander und das gegenseitige Vertrauen. Wie selbstverständlich funktioniert das Zusammenspiel, die körperliche Nähe, zwischen muslimischen Jungen und Waldorfschülerinnen genauso wie zwischen blinden Kinder und sehenden, die sie führen. Warum rührt einen das so an? Diese jungen Menschen führen uns so leidenschaftlich vor, woran es unserer Welt nicht erst mangelt, seit sie so massiv durch terroristische Gewaltakte, Amokläufe und rechtspopulistische Demagogen erschüttert wird. In den Schlussapplaus hinein hält Adrian Turner eine kleine, emotionale Rede und unterstreicht noch einmal die Idee seiner „Weltbühne“: „Wir sind alle gleich!“ Ein Stückchen Glauben an diese Utopie nimmt man mit nach Hause.