Kann überhaupt, und wenn ja, wie nachhaltig kann ein sich über eineinhalb Monate erstreckendes Musikvermittlungsprojekt die Wahrnehmung von klassischer Musik und das Bedürfnis nach eigenen kreativen künstlerischen Aktivitäten verändern?
Antworten auf diese und weitere Fragen zu bekommen, war Auslöser dafür, das Musikvermittlungsprojekt „Oper zum Anfassen – The Rake im Theater an der Wien“ vom Institut für Musiksoziologie der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien unter der Leitung von Dr. Huber evaluieren zu lassen. Das Projekt wurde im Auftrag des „Theater an der Wien“ aus Anlass der Neuinszenierung von Igor Strawinskys Oper „The Rake’s Progress“ unter der musikalischen Leitung von Nikolaus Harnoncourt durchgeführt.
„Oper zum Anfassen“ ist eine Projektschiene von „Musik zum Anfassen“ – eine Musikvermittlungsinitiative, dessen zentraler Konzeptansatz es ist, die Zielgruppe erlebnisorientiert nach einer mehrteiligen dialogischen Workshopreihe aktiv in eine abschließende öffentliche Projektpräsentation einzubinden.
Die Zielgruppen des genannten Projekts waren Schülerinnen und Schüler der Hauptschule der Wiener Wohnsiedlung „Am Schöpfwerk“ und deren Bewohner, außerdem Klienten einer Drogentherapiestation, ehemalige Strafgefangene, AHS-Schüler/-innen sowie Studierende der Wiener Kunst-universitäten. Die Wahl einer Wohnsiedlung als Projektstandort war bewusst getroffen worden. Leitgedanke dabei war, mit Jugendlichen aus einem sozialen Brennpunkt zu arbeiten, für welche Oper quasi gänzlich „unbekannt“ ist, die Thematiken dieser speziellen Oper aber durch das unmittelbare, direkte Umfeld der Projektbeteiligten sehr wohl „alltäglich“ präsent sind. Es bestätigte sich, dass es möglich ist, über die Ebene der Kunst und Musik mit den Teilnehmern genau die-se Inhalte im Dialog schöpferisch zu thematisieren und zu reflektieren.
Die Oper „The Rake’s Progress“ von Igor Strawinsky – der Lebensweg des Titelhelden Tom Rakewell – war Grundlage und Inspirationsvorlage für die jeweils gruppen- und altersspezifisch unterschiedlich aufbereitete Auseinandersetzung. Der inhaltliche Kern der Vermittlung in den Workshopserien und Schwerpunkt aller künstlerischen Umsetzungen waren Versuchungen, denen sich nicht nur „Tom“, sondern jeder junge Mensch als Teil der eigenen Identitäts-Suche stellen muss, und deren Bewältigung je nach familiärem oder gesellschaftlichem Umfeld eine unterschiedlich intensive Unterstützung erfährt.
Zentral evaluierter Bereich des Gesamtprojektes waren die Aktivitäten in der Hauptschule. Ausgangs- und Bezugspunkt in den Auseinandersetzungen war „Tom Rakewell“, kurz „Rake“ genannt, und sein Umgang mit den verführenden Angeboten von „Shadow“. Die Schüler/-innen erarbeiteten in dialogischen interaktiven Workshops dazu eigene Zugänge auf musikalischer, szenischer und bildnerischer Ebene.
Zwei Klassen übernahmen das szenische Spiel und gestalteten Kostüme und Requisiten. Inspirationsgrundlage waren hier optische „Versuchungen“, Gegenstände oder Fotos aus Zeitungen oder Magazinen, die gesammelt, im Unterricht reflektiert und zu Collagen zusammengestellt wurden. Gemeinsam ausgewählte Beispiele bildeten dann die Grundlage für die kreative Arbeit im Kostüm- und Requisitenbau sowie für die Erstellung eigener Choreografien. Die Arbeit der beiden Musik- und Kompositionsklassen setzte wiederum unterschiedliche Schwerpunkte: Eine Klasse sammelte Klänge der Verführung in Form von Werbeslogans oder -songs. Dadurch angeregt, wurde gemeinsam experimentiert und erarbeitet, wie mit der eigenen Stimme Begriffe der Versuchung sprachlich und stimmlich gestaltbar sind. Digital aufgenommen, konnten die Teilnehmer mit einem eigens für diesen Zweck erstellten Computerprogramm die gesammelten Klangmaterialien am PC verfremden und kompositorisch zu einer eigenen „Komposition“ neu arrangieren. Die andere Klasse erfand Raptexte, die die Randalierer- und Hurenchöre der Oper durch eigene Textinhalte und Sprechrhythmen sowie Musik ergänzten oder ersetzten.
Die abschließende Präsentation im „Theater an der Wien“ gewährte einen Einblick in die zu einem größeren Ganzen zusammengeführten und gemeinsam mit den Studierenden erarbeiteten Werkstattergebnisse der Schüler. Kontrastiert oder kombiniert wurden sie mit Arien und vom Orchester gespielten Orginalausschnitten aus Strawinskys Oper, zusätzlich ergänzt durch die autobiografischen Ton- und Filmbeiträge der am Projekt beteiligten ehemaligen Strafgefangenen beziehungsweise Klienten der Drogentherapiestation. „Rake’s“ Entwicklungs- und Erfahrungswelt, seine durch die musikalische Umsetzung Strawinskys hörbar werdende Befindlichkeit webte sich somit in die persönliche Auseinandersetzung der jungen Menschen hinein und schenkte Inspiration, im Projekt über Selbstbestimmung und künstlerische Umsetzungen zu reflektieren. Die Präsentation war Anlass für die Bewohner der Wohnsiedlung, ihre „Künstler“ zum Auftritt auf der Opernbühne zu begleiten, sie als ihre „Fans“ zu unterstützen und dadurch die Schwellenangst zum Besuch einer der berühmtesten Aufführungsstätten der Wiener Hochkultur zu überwinden.
Die Evaluation zur Klärung der Frage, welche Wirkung das Projekt hat und ob Veränderungen langfristig feststellbar sind, wurde mit Fragebögen durchgeführt. Neben Fragen zum sozialen Hintergrund der knapp 100 Schüler/-innen der 6. und 7. Klasse standen der Musikgeschmack, -konsum und das Interesse für kulturelle Aktivitäten im Mittelpunkt. Die Befragung war anonym und wurde in drei Durchgängen durchgeführt:
Der erste Durchgang fand vor und ohne Wissen über das bevorstehende Projekt statt, der zweite wenige Tage nach der öffentlichen Abschlusspräsentation, und die dritte Befragung wurde ein Jahr nach dem Projekt im November 2009 durchgeführt. Die aussagekräftigsten Ergebnisse nach Auswertung der drei Durchgänge sind folgende:
Von über 70 Prozent der Befragten wurden die Fragen „Möchtest du wieder einmal bei einem Musik-Projekt mitmachen?“ oder „Wie gut hat dir das Projekt gefallen?“ direkt nach dem Projekt mit „ja, sehr gerne“ beziehungsweise „sehr gut“ angekreuzt. Auch ein Jahr später, als die Erinnerung an den eigenen erfolgreichen Auftritt schon verblasst war, zeigte sich hier weiterhin ein nachhaltig positiver Eindruck. Bei der Frage nach dem Interesse an kulturellen Veranstaltungen ließ sich ebenso nach einem Jahr feststellen, dass die Scheu („kein Interesse“) vor jenen Bereichen deutlich reduziert werden konnte, die vom Projekt berührt wurden.
Ändert sich die Wahrnehmung von „klassischer“ Musik durch die Beschäftigung mit ihr? Dazu wurde ein Ausschnitt je eines Chors aus „Così fan tutte“ von Mozart sowie von Strawinsky auf CD mit der Frage vorgespielt, wie gut diese gefielen. Mozarts Musik wurde weder vor, im oder nach dem Projekt jemals thematisiert. Den Werkausschnitt aus Strawinskys Oper hatten dagegen die Schüler im Projekt kennengelernt. Die Veränderungen sind bemerkenswert: Mozart wurde vor dem Projekt von 52 Prozent der Schüler/-innen mit „gefällt gar nicht“ angekreutzt, direkt nach dem Projekt nur mehr von 23 Prozent. Die Steigerung der Aussage „gefällt mir ganz gut“ von 15,6 auf 42,5 Prozent korreliert damit. Nach einem Jahr zeigte sich, dass die positive Beurteilung des Musikausschnittes sich wieder relativiert hatte. Nun gefiel Mozart nur 26,6 Prozent „ganz gut“ und die schlechteren Bewertungen nahmen wieder entsprechend zu.
Deutlich anders die Entwicklungen bei dem Ausschnitt aus „The Rake’s Progress“: Über 75 Prozent gefiel die Musik vor dem Projekt „gar nicht“ oder „nicht besonders“. Direkt nach dem Projekt kreuzten dagegen fast 89 Prozent der beteiligten Schüler das Feld „gefällt mir sehr gut“ und „ganz gut“ an. Die totale Ablehnung reduzierte sich auf 4 Prozent. Ein Jahr danach zeigte sich, dass die aktive Auseinandersetzung mit diesem Stück eine nachhaltige Veränderung bewirkt hatte. 23 Prozent gefiel er nun zwar „nicht besonders“ und die totale Ablehnung erhöhte sich um 5 Prozent. In der Summe gefiel aber 68 Prozent der Schüler die Musik weiterhin „ganz gut“ oder „sehr gut“.
Die Wünsche nach kreativer Betätigung – „was man nicht macht, aber gerne machen würde“ – wurden besonders in den Bereichen „ein Instrument spielen“, „Theater spielen“ und „schreiben“ deutlich stärker. Hatten vor dem Projekt nur 13 Prozent den Wunsch geäußert, Theater zu spielen, waren es nach dem Projekt fast 47 Prozent. Ein Instrument spielen wollten nach dem Projekt über 26 Prozent, vor dem Projekt waren es nur knapp 7 Prozent der Teilnehmer.
Ein Jahr später hatten sich die Wünsche sogar noch gesteigert. In jedem der angebotenen Bereiche gaben jetzt mehr Schüler als vor einem Jahr an, es gerne machen zu wollen. Der Wunsch zu schreiben, zu tanzen und ein Instrument zu lernen ist weiter gestiegen. Die Ergebnisse beweisen eindrucksvoll die nachhaltige Wirksamkeit eines Musikvermittlungsprojektes, bei dem die Beteiligten künstlerisch aktiv eingebunden sind. Sie machen in hohem Ausmaß bewusst, welche vielen weitreichenden zusätzlichen Effekte erzielt werden können. Darüber hinaus verdeutlichen sie die Notwendigkeit nach Fortsetzung und Kontinuität. Was sie nicht zeigen, sind die „inneren“ Erlebnisse und tiefen emotionalen Wirkungen, die die Auseinandersetzung mit und das Erleben von Kunst auf jeden Einzelnen hat. So wie eine Klassenlehrerin mir schrieb: „… ich hätte nämlich gerne noch angebracht, dass die persönliche Bereicherung und die individuelle Förderung von Jugendlichen in einem solchen Projekt statistisch nicht erfassbar sind“.