In der Streicherpädagogik findet in Deutschland derzeit ein Paradigmenwechsel statt. Beginnend mit den Versuchen zum Streicherklassenunterricht in ausgewählten Schulen Anfang der 1990er-Jahre bis hin zur Initiative „JeKi“, deren konkrete Ausgestaltung derzeit erarbeitet wird, ist es inzwischen Konsens, dass instrumentaler Unterricht in die allgemein bildende Schule integriert werden muss, sollen nicht immer mehr Menschen von kultureller Bildung ausgeschlossen werden.
Initiiert von Regine Schultz-Greiner (Berlin) und Bernd Zingsem (Düsseldorf), richtete die Landesmusikakademie Berlin Ende April den 2. Kongress zum Streicherklassenunterricht aus. Als Dozentin konnte die große Violinpädagogin Sheila Nelson aus Großbritannien gewonnen werden.
Sheila Nelson berichtete über die ersten Anfänge mit dem Tower-Hamlet-Project in London und gab Lehrproben mit einer Berliner Schülergruppe. Grundlage ihres Unterrichts sind die Relative Solmisation als Voraussetzung für das Hören und die motorischen Grundlagen des Streichinstrumentenspiels, die Paul Rolland bei der Arbeit für das Illinois String Research Project entwickelte: „Musik lernen durch Musik“, „vom Großen zum Kleinen“ und „ist etwas steif oder verkrampft, dann bewege es“. Bewegung ist ein wichtiger Aspekt von Sheila Nelsons Unterricht. Nachdem die Klasse noch etwas ängstlich ihr Stück vorgestellt hatte, brachte Sheila Nelson die Kinder zum Swingen. In den Viertelpausen mussten die Knie gebeugt werden und zum Schluss durften alle laut rufen: „Hey!“ Gleich klang es viel besser und den Kindern sah man die Freude an. Und schon ging es weiter mit Improvisationsübungen: „Ich einen Takt – Du einen Takt“, immer eingebettet in einen Orchesterrefrain. Viele Kinder waren zuerst unsicher, was zu tun sei, aber einige wagten sich mit mutigen Eigenkreationen vor. Jeder musste einmal ran, es gab kein richtig oder falsch, lediglich fehlende Töne füllte Sheila Nelson manchmal liebevoll auf, um das rhythmische Gerüst zu stützen. Binnendifferenzierung in der Großgruppe, Einzelkorrektur bei gleichzeitiger Beschäftigung der ganzen Gruppe, all diese Forderungen gelungenen Gruppenunterrichts konnte man hier exemplarisch verfolgen und ganz nebenbei machte es Dozentin und Schülern sichtlich Spaß.
Die Arbeit in der Streicherklasse nach Paul Rolland ist die derzeit sicher bekannteste Methode und daher trafen sich zum Kongress auch hauptsächlich Lehrkräfte, die den entsprechenden berufsbegleitenden Lehrgang bereits absolviert hatten. In den verschiedenen Arbeitsgruppen wurden die nötigen organisatorischen Voraussetzungen in der Zusammenarbeit zwischen Musikschule und allgemein bildender Schule diskutiert, Arrangements für gemischte Streicherklassen erarbeitet und Unterricht auf dem „fremden“ Instrument, hier Cello und Bass, angeboten. Rockige Begleitungen scheinen ein Merkmal der verwendeten Literatur zu sein. Das Seminar zum Thema Arrangement, sehr fachkundig von Christian Oelert geleitet, zielte weniger auf einen klassischen Tonsatz ab, als eben auf eine Begleitung mit Klavier oder Gitarre zur einstimmigen Streichermelodie. Um eine gewisse Eintönigkeit auszugleichen, werden die Begleitungen mit Jazzharmonien angereichert, was man sehr gut an Oelerts Klavierpart bei der Schülerdemonstration hören konnte. Durch sein Rockpiano gerieten die Kinder sofort in Schwung.
Lehrwerke, Unterrichtsmodelle
Birgit und Peter Boch stellten ihr neues Lehrwerk „Streicher sind Klasse“ (Schott) vor. Darin versuchen sie, die Lehrplaninhalte für die fünfte und sechste Gymnasialklasse konsequent mit den Anforderungen des Streicherklassenunterrichts zu verbinden. Musikalisierung durch Musikmachen heißt das Motto. Die Grundlage bilden wieder Solmisation und Rhythmussprache, hinzu kommen theoretische und wissenschaftliche Anteile, wie sie der gymnasiale Lehrplan fordert. Lesen und Verstehen des Notentextes sollen das unbedingte Ziel aller Vorübungen sein, ebenso wie verschiedene stilistische Merkmale schon in den Leersaitenstücken zum Einsatz kommen. Auch zeitgenössische Techniken des Streichinstrumentenspiels werden zumindest ansatzweise eingeführt, bleiben ansonsten aber leider ein Stiefkind der vorhandenen Literatur. Die vorgestellten Stücke arbeiten oft mit „Lücken“: spielt der Kontrabass, müssen die Geigen schweigen und umgekehrt, sodass die Kinder gefordert sind, die Stimmen der anderen mitzulesen, respektive innerlich zu hören.
Regine Schultz-Greiner referierte zum Thema Streicherklassen in der Grundschule. Die Schätzelberg-Schule, eine der musikbetonten Grundschulen Berlins, bietet derzeit Klassenunterricht für die zweite bis vierte Klasse an. Dafür werden alle interessierten Schüler der zweiten Klassen zusammengefasst und in zwei Randstunden gemeinsam unterrichtet. Der Unterricht findet zweimal wöchentlich statt und wird von drei Lehrkräften im Team erteilt. Er ist auf drei Jahre angelegt und soll auch für die Klassenstufen fünf und sechs als Gruppenunterricht erhalten bleiben (die Berliner Grundschule umfasst sechs Klassenstufen). Da das Berliner Modell der musikbetonten Grundschule einzigartig ist, entfallen viele Probleme, die sonst entstehen. Die Lehrkräfte sind fest angestellt und in das Kollegium eingebunden, die Schulleitung unterstützt das musische Angebot, der Unterricht ist für die Kinder kostenfrei. Da es sinnvoll ist, schon in frühem Alter mit der Streicherausbildung zu beginnen, ist dies sicher ein Erfolg versprechender Ansatz. Leider ist der Fortbestand der Musikbetonung in der jetzigen Form in Bezug auf die finanzielle und personelle Ausstattung nicht gesichert. Zu fragen wäre darüber hinaus, inwieweit eine Weiterbetreuung der streichenden Schulabgänger durch die Musikschule gewährleistet ist und wie man finanziell schwache Familien durch Stipendien oder Ähnliches entlastet. Gerade angesichts der derzeitigen Situation der Berliner Musikschule bleiben hier viele Fragen offen.
Probleme in der Umsetzung
Bernd Zingsem lud zur Gesprächsrunde zum Thema Musikschule und Streicherklassenunterricht. Da er das erste Modell einer Streicherklasse an einer Bochumer Gesamtschule mit Hilfe der Musikschule ins Leben gerufen hat, verfügt er über eine reiche Erfahrung bezüglich der Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer Zusammenarbeit, besonders vor dem Hintergrund der vielfältigen Schulformen in Deutschland. Kooperationen gibt es derzeit an Gymnasien oder Gesamtschulen, auch die Grundschule ist durch die Ganztagsangebote sehr an einer Zusammenarbeit interessiert. Hauptschule und Realschule sind leider fast „musikfrei“, einige Projekte mit Bläserklassen in Realschulen zeigen allerdings gute Resultate. In den Grundschulen liegt das Haupthindernis in der geringen Zahl qualifizierter Musiklehrkräfte. So zeigte sich auch im Erfahrungsaustausch, dass die meisten Teilnehmer an Gymnasien unterrichteten, die Gruppengrößen lagen zwischen 12 und 24 Schülern. Klagen gab es über organisatorische Dinge wie Räumlichkeiten, schlechte Zusammenarbeit mit den Musiklehrern bei klassenübergreifenden Gruppen bis hin zu persönlichen Problemen im Team.
Die Finanzierung der Instrumentallehrkräfte übernehmen meistens die Eltern der beteiligten Kinder, oft über Musikschulentgelte, teilweise auch über Fördervereine. Bernd Zingsem hob hervor, dass der beträchtliche Mehraufwand der Musikschullehrkraft, den ein Klassenunterricht erfordert, von Seiten der Musikschulen nur in den seltensten Fällen in Form von Regiezeiten oder Abgeltungsstunden gewürdigt wird. Er forderte, eine Stunde Vorbereitungszeit pro unterrichteter Klassenstunde zu vergüten. Bis jetzt setzt man auf den Idealismus der Lehrkräfte. Auch die unterschiedliche Bezahlung des Schulmusikers und des Musikschullehrers macht das Arbeiten im Team oft nicht einfach, zumal der Schulmusiker durch seine tägliche Anwesenheit in der Schule sicher eher eine Art „Hausrecht“ hat als der nur sporadisch erscheinende Musikschullehrer.
Zur großen Diskussionsrunde hatte man Helga Boldt als Mitglied der Enquete-Kommission Kultur des deutschen Bundestages und die stellvertretende Leiterin der Musikschule Kreuzberg-Friedrichshain Ulrike Philippi geladen. Bernd Zingsem betonte, dass es nicht darum ginge, den traditionellen Einzelunterricht zu ersetzen, sondern dass es angesichts sich verändernder sozialer Gegebenheiten wichtig sei, die Musik auf neuen Wegen breiten Schichten zugänglich zu machen. Er stellte darüber hinaus klar, dass sich die derzeit laufenden Projekte zumeist auf die fünfte und sechste Klasse bezögen, das heißt für eine mögliche spätere Berufstätigkeit als Streicher viel zu spät ansetzten. In diesem Zusammenhang hob er hervor, dass auch die Musikschulen, trotz ihrer studienvorbereitenden Abteilungen, eigentlich Institutionen der Laienbildung seien. Da die Programme des Streicherklassenunterrichts lediglich auf zwei Jahre angelegt sind, müsse die Musikschule verstärkt Konzepte für Folgeangebote für die vielen Streicher erarbeiten.
Aufwertung der
vermittelnden Berufe
Helga Boldt wies darauf hin, dass an den Musikhochschulen derzeit Musiker ausgebildet werden, für die gar keine Arbeitsplätze mehr existieren. Sie verlangte eine Aufwertung der Musik vermittelnden Berufe gegenüber den Solisten und Orchestermusikern. Allgemein wurde beklagt, dass an den Musikhochschulen nach wie vor das alte Schüler-Meister-Verhältnis vorherrsche und die lehrenden Professoren wenig Interesse an alternativen Unterrichtsformen zeigten. So fühlen sich die meisten Instrumentalpädagogen überfordert, wenn sie in der Musikschule plötzlich Gruppen- oder gar Klassenunterricht erteilen müssten.
Hier gibt es neuerdings Ansätze der Hochschulen, im Rahmen der neuen Studienordnung Module zu diesem Thema innerhalb der pädagogischen Abteilung anzubieten. Die Universität der Künste Berlin bietet beispielsweise Praktika in den musikbetonten Grundschulen an. Auch das neue Programm „JeKi“ wirft die Frage auf, wie Unterricht, vielleicht sogar mit gemischten Instrumenten, gestaltet werden kann. Hier ist zuallererst eine Kontrolle der Unterrichtsqualität gefordert. Eine gute Voraussetzung ist, dass dieser Unterricht etwa in Bochum ausschließlich mit fest angestellten Lehrern erfolgen soll.
In Deutschland ist zum Thema Musikvermittlung, angestoßen durch die Erfolge in Venezuela, aber auch durch die Veränderung der Schullandschaft, die Frage der Integration von Immigrantenkindern und die Zunahme bildungsferner Schichten schon Einiges in Bewegung gekommen. Manches muss sich aber noch bewähren. Wichtig scheint dabei nicht nur die Frage, wie instrumentaltechnische und musikalische Grundfertigkeiten vermittelt werden können, sondern wie musikalische Erziehung in einen Gesamtzusammenhang ästhetischer Bildung gestellt werden kann. Um die Schüler „da abholen zu können, wo sie stehen“, muss der Lehrer wissen, wo er sie hinbringen will. Aktiver Musikunterricht, soll er nicht seinen Anspruch auch als wissenschaftliches Schulfach verlieren, muss ein Bild der gesamten Musik vermitteln und das beinhaltet auch Auseinandersetzung mit „schwieriger“ Musik. Zu fragen bleibt: Beugen wir uns dem Diktat der Alltagsmusik oder schaffen wir es, die Kinder auch für Ungehörtes zu begeistern?