Im Allgemeinen wird die Musikpädagogik Ungarns mit dem Namen Zoltán Kodalys verbunden. Dies geschieht nicht selten mit einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis für die von ihm begründete „Methode“. Das vorliegende Forum Musikpädagogik möchte mit neueren musikpädagogischen Ansätzen in Ungarn bekannt machen. Dazu werden die Konzepte zweier profilierter Persönlichkeiten der ungarischen Musikszene vorgestellt.
Klára Kokas absolvierte ihr Studium an der Budapester Musikakademie als Studentin Zoltán Kodálys, der ihre außergewöhnliche pädagogische Begabung entdeckte. Auf seine Aufforderung hin entwickelte sie in Szombathely ein System für den täglichen schulischen Musikunterricht. 1964 wurde ihr für ihre Dissertation zu Transfereffekten der Musikerziehung internationale Beachtung zuteil. Sie wandte sich dann zunächst der musiktherapeutischen Arbeit mit verwahrlosten, später auch mit blinden Kindern zu. Von 1970 bis 1973 leitete sie in Boston das Forschungsprogramm des ersten amerikanischen Kodály-Instituts. Seit 1973 hielt sie als Dozentin des musikpädagogischen Instituts „Zoltán Kodály“ in Kecskemét zahlreiche Vorträge, Unterrichtsdemonstrationen und Kurse in der ganzen Welt. Dabei griff Kokas den Kern der Philosophie ihres Lehrmeisters auf: Durch das Kennenlernen der Wurzeln nationaler Traditionen soll der Weg dafür geebnet werden, von kulturell vermittelten Werten persönlich berührt zu werden. Zur Erreichung dieses Ziels empfahl Kodály eine lebenslang anhaltende musikalische Erziehung und betrachtete diese als Garant einer harmonischen Persönlichkeitsentwicklung.
Instinktive Bewegungen
Um Kindern die Meisterwerke der Gesangs- und Instrumentalliteratur nahe zu bringen, entwickelte Kokas einen Weg, der sowohl für musikalische Ausnahmebegabungen als auch für jene am unteren Ende der Begabungsskala mit einem gleichwohl vorhandenen Bedürfnis nach Musik, attraktiv und gangbar ist. In ihrer Pädagogik baut sie auf die instinktiven Bewegungen auf, die bei den Kindern durch das Musik hören ausgelöst werden. Die aus der Musik entspringenden Bewegungen, zu denen nachdrücklich ermutigt wird, und die von der Stimmung der Musik inspirierte Atmosphäre ermöglichen es den Kindern, die Musik in ihrer ganzen Tiefe zu erleben. Diese Methode zwingt weder zu vorhergehenden formalen Analysen, noch zu einer musikwissenschaftlichen Interpretation. Vielmehr kann das Kunstwerk als Ganzes wirken. Durch häufige Wiederholungen kurzer Musikstücke werden immer tiefere Schichten der Persönlichkeit angesprochen, Gedanken und Gefühle, psychische Energien und kreative Strebungen freigesetzt. Die Schüler von Klára Kokas erfahren während dieses bewegten, aktiven Musik hörens ein dem versenkten Zusammenmusizieren nahe kommendes Erlebnis. Mit ihrer Pädagogik ermöglicht sie selbst kleinen Kindern schon, Kunstwerke aufzufassen, zu denen sie sonst erst in einem späteren Lebensalter oder nur mit Hilfe von Erklärungen durch Erwachsene einen Zugang gefunden hätten.
Integration
Ein wichtiges einleitendes Element in ihrer Arbeit mit Kindern ist das Integrieren der einzelnen Individuen in eine Gemeinschaft. Dazu dienen volkstümliche Kreistänze mit Handfassung. Improvisatorisches Singen der Namen, wie es in der Kokas-Methode praktiziert wird, fördert das musikalische Gehör, das Gedächtnis und die Kommunikationsfähigkeit. Die uralten Kinderlieder, Partnerspiele und das Erzählen von Geschichten ermöglichen bereits, sich in der Musik zu vergessen und sich von ihr berühren zu lassen. So kann zum Beispiel ein dreijähriges Kind ganz fasziniert Personen, Tiere, Dinge oder Begriffe erleben, die jeweils gerade Gegenstand des Singens sind. Durch solche Erlebnisse des Ergriffenseins wird schließlich bei allen Gruppenmitgliedern der Boden für musikalische Kunstwerke bereitet.
Beim fünf- bis achtmaligen Hören von kurzen, ein- bis zweiminütigen, möglichst vollständigen Werken offenbart sich durch die von der Musik angeregten Bewegungen oder Malereien, welche Zusammenhänge hörend erlebt werden. Durch immer intensivere Beschäftigung mit der Musik werden Gedanken, Emotionen und schöpferische Fantasie angesprochen. Die individuellen Erlebnisse der Einzelnen, die in einer inspirierten Atmosphäre durch die Musik herbeigeführt und den anderen mitgeteilt werden, bringen kathartische Wirkungen für die ganze Gruppe mit sich. Am Ende der Unterrichtseinheiten stehen jeweils neue Musikstücke mit harmonisierender psychischer Wirkung, das beruhigende Singen von Volksliedern, das Anzünden von Kerzen und die Stille, die das Schwingen der Sphären erahnen lässt. Der besondere Wert eines solchen auf die Sensibilität für Musik zielenden Ansatzes liegt darin, dass man damit jederzeit – und völlig unabhängig von Notenkenntnissen – beginnen kann: Von der pränatalen Zeit bis zum Erwachsenenalter kann die Musik auf je spezifische Weise eine Bereicherung sein und Impulse geben, die von Bedeutung für das weitere Leben sein können.
Breite Anerkennung
Der Ertrag der Arbeit von Klára Kokas und ihren Mitarbeitern zeigt sich in Publikationen, Filmen, Büchern und mehrere Jahrzehnte umfassenden gründlichen Dokumentationen, die ihrer auf entdeckendem Lernen basierenden, intuitiven Pädagogik zu breiter Anerkennung verholfen haben. Ihre Forschungen sind beeinflusst vom Denken pädagogisch ähnlich gesinnter Wissenschaftler, die sich mit ästhetischen Zusammenhängen beschäftigen und Verbindungen zwischen Musik, Bildender Kunst, der Sprache und der Mathematikdidaktik des ungarischstämmigen Kanadiers Dienes ziehen. Eine ständig aktualisierte Auswahl an genaueren Erläuterungen zu ihrer Methode und an Selbstzeugnissen von Klára Kokas lässt sich auf ihrer Homepage unter www.bmc.hu/kokas nachlesen. Ihr Ansatz wird als eigenständige Methode an den ungarischen Pädagogischen Hochschulen für zukünftige Oberstufenlehrer, aber auch an einigen ausländischen Universitäten gelehrt. Die Pflege des gesamten Lebenswerkes von Klára Kokas hat 1990 die Budapester Stiftung „Agape Zene-Életöröm“ übernommen.
In einem seit 1999 institutionalisierten, selbständigen dreijährigen Kurs gibt Klára Kokas ihr musikpädagogisches System an ungarische und ausländische Pädagogen weiter. In der Nachfolge ihrer Schule haben sich drei anerkannte Kokas-Werkstätten gebildet: in Zebegény, in Budakalász und in Pécs, wo die Verfasserin dieser Zeilen mit Jungen im Pubertätsalter auf der Basis freiwilliger Teilnahme arbeitet. Klára Kokas lehrt, schreibt, dreht Filme in Budapest – 74-jährig und bei voller geistiger Kraft.
Ihr neuestes Thema ist die Musikerziehung mit den Allerjüngsten – von der Eizelle bis zum Baby. Auch in diesem Programm leitet sie ihre Kurse persönlich und beeindruckt die Teilnehmer mit ihrer inspirierenden Arbeit.