„Willkommen“ steht als zentraler Schlüsselbegriff der Arbeitsgruppe einer Musikschule zur Zukunftsaufgabe Inklusion in großen Buchstaben an der Tafel. „Jeder Schüler hat das Recht, dass unsere Musikschule alles Nötige tut, um ihm das Gefühl und die Erfahrung zu geben, grundsätzlich willkommen zu sein. Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Senioren, Menschen verschiedener Herkunft und sozialer Schichten, Menschen mit Behinderung und Menschen mit besonderem Förderbedarf, also Hochbegabte, genauso wie Menschen mit geringen Lernerfahrungen – jedem Menschen macht unsere Musikschule ein ihm entsprechendes Angebot, Musizieren zu lernen und Musik zu machen.“
Vor allem Fragen bestimmen die anschließende Diskussion der Arbeitsgruppe: Ist unsere Musikschule wirklich für alle Menschen zuständig und verantwortlich? Überfordern wir damit nicht unsere Möglichkeiten und letztlich uns selbst? Überfordert die Vision einer gleichberechtigten Teilhabe aller vielleicht sogar manche der Menschen, für die man glaubt, zu handeln? Die Auswertung einschlägiger Fachtexte hilft, das Thema zu konkretisieren und eine erste gemeinsame Sprache und Basis zu finden: Teilhabe ist ein Menschenrecht. Die Inklusion ist ein Konzept des menschlichen Zusammenlebens. Die Inklusion ist eine Leitidee für jede Institution, die die Verschiedenheit von Menschen anerkennt und die Formen der Vielfalt wertschätzt und zum Wohle aller nutzt. Inklusion ist also kein Ergebnis, sondern ein fortwährender Prozess, der die Gesellschaft, ihre Institutionen und alle Menschen – zum Beispiel auch Menschen mit Behinderung – im Rahmen ihrer Möglichkeiten fordert.
Grundsätzlich sind Musikschulen als öffentlich geförderte Bildungseinrichtungen durch das Bekenntnis unseres Staates zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, diskriminierende Barrieren für eine Teilhabe aller zu erkennen und aktiv zu beseitigen. Schnell war sich die Arbeitsgruppe jedoch einig, dass der Leitidee der Inklusion, der öffentliche Auftrag der Musikschulen, den Menschen ein Angebot zu deren individueller Sinnfindung zu machen, gleichwertig zur Seite gestellt werden muss.
Deshalb widerspricht es der Leitidee der Inklusion nicht, wenn eine Musikschule ihr Angebot und ihre verantwortliche Zuständigkeit in erster Linie denen erklärt, die Musik machen wollen und die bereit sind, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu engagieren. Gleichzeitig ist es nötig und im Sinne der Leitidee der Inklusion geboten, Angebote für diejenigen Mitmenschen zu entwickeln, die bisher, aus welchen Gründen auch immer, für sich noch nicht die Erfahrung machen konnten beziehungsweise durften, ob Musik ihr Leben bereichert. Die Grenze einer durch Wertschätzung bestimmten Teilhabe ist dann gegeben, wenn die Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen verletzt wird und seine Förderung und Entwicklung (vorübergehend?) in einem Schutzraum von ihm selbst als richtiger empfunden wird. Das Schaffen einer Willkommenskultur und das vernehmbare Signal einer freundlichen Zuständigkeit der Musikschule für alle ersetzt jedoch keineswegs das damit einhergehende Ringen um die konkrete Umsetzung der Inklusion in der Musikschule durch pädagogisches Handwerk.
Die gebotene Vernetzung der schulischen und außerschulischen Bildungsorte, gefordert zum Beispiel in den Bayerischen Bildungsleitlinien (September 2012) unter der Überschrift „Gemeinsam Verantwortung tragen“, bezieht erstmals die Institutionen der Aus-, Fort- und Weiterbildung, die das pädagogische Personal der Bildungsorte qualifizieren, in einen gemeinsamen Orientierungs- und Bezugsrahmen ein. Damit sind auch die staatlichen Musikhochschulen aufgerufen, ihre Studierenden für deren immer heterogener werdende Zielgruppe (Schüler) an ihrem künftigen Arbeitsplatz Musikschule auszubilden und Kompetenzen für die bildungspolitisch gewollten Kooperationen der Musikschulen mit Kindergärten, allgemeinbildenden Schulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung, Seniorenheimen und Förderstätten für Menschen mit Behinderung zu vermitteln (vgl. hierzu: Erklärung der kommunalen Spitzenverbände, 2011, und der KGSt, 2012).
Die Ausbildung der Studierenden an den Musikhochschulen bedarf daher für beide Bereiche einer Fortschreibung ihrer bisherigen Inhalte. Diese Fortschreibung stellt die bisherige Arbeit der Musikhochschulen nicht in Frage, sondern greift sie auf, benennt systemrelevante Bereiche gelingender Musikpädagogik und deren Bedeutung gerade in den hinzukommenden Praxisfeldern der künftigen Musiklehrerinnen und -lehrer. Sie bestätigt die Erfahrungen der bisherigen Ausbildung, verlangt einen Transfer der Erkenntnisse auch in die Arbeit mit neuen Zielgruppen, in größeren Sozialformen und in Kooperationen und ergänzt diese mit sonderpädagogischem Wissen.
Eine inklusive Musikpädagogik erkennt unterschiedliche Facetten der Pädagogik mit unterschiedlichen Zielgruppen (jung – alt, behindert – nicht behindert, bildungsnah – bildungsfern, ...) an, sieht ihre Aufgabe aber vor allem darin, für die Lehrpraxis verwertbare grundsätzliche Aussagen zur Diversität zu treffen. Unverzichtbar sind die Bereitschaft und die Fähigkeit der Lehrenden, sich für inklusionsimmanente Strukturen und Lernbedingungen einzusetzen. Das Ziel eines gemeinsamen Lebens und Lernens verlangt auch die gemeinsame Reflexion und Planung aller am Lernprozess Beteiligten und die Fähigkeit, Probleme kollegial im Team zu lösen. Über die Kompetenzerweiterung ihrer Studierenden im Sinne der Inklusion leistet die Musikhochschule ihren Beitrag gemäß der UN-Konvention und schafft die Grundlagen dafür, dass die angehenden Musiklehrerinnen und -lehrer allen Menschen ihnen gemäße Wege hin zu einem selbstbestimmten, von individuell erfahrenem Sinn getragenen Musizieren, alleine, aber vor allem auch in der Gemeinschaft, anbieten können.
Aufgaben einer inklusiven Musikpädagogik
Neue Zuständigkeiten der Musiklehrenden in Kindertagesstätten, in Kooperationen mit allgemein bildenden Schulen oder in der pädagogischen Arbeit mit alten Menschen verändern die bisherigen Gedankengebäude über die Aufgaben, Möglichkeiten und Ziele der (Musik-)Pädagogik grundlegend. Das klassische Dienstleistungsangebot des „Meisters“ für den zumeist jungen, freiwillig lernenden und aufnahmefähigen Schüler, das lediglich zwischen der Förderung von Begabten und der Breitenbildung unterschied, erhält durch die politisch gewollte Anbindung an Pflichtbereiche der allgemeinbildenden Schule und die verstärkte Öffnung für neue Zielgruppen neue Dimensionen:
Der Umgang mit Schülerinnen und Schülern, die nicht mehr nur freiwillig das Angebot der Musikschule aufsuchen oder zumindest von einem wohlwollenden und unterstützendem Elternhaus geschickt werden, verlangt zunehmend die Kompetenz der Lehrenden, mit Schwierigkeiten wie einer nachlassenden Disziplin, schwankender Konzentrationsfähigkeit oder mangelnder intrinsischer Motivation sinnvoll umzugehen.
Erwachsene suchen Ausgleich zu ihrem zeitintensiven und anstrengenden Arbeitsleben, ohne allerdings wirklich in die eigene Ausbildung (zeitlich) investieren zu können.
Im Falle der Arbeit mit alten Menschen geht es nicht mehr nur um den Aufbau und die Erweiterung von Kompetenzen, sondern um einen menschenwürdigen Erhalt und Abbau vorhandener Kompetenzen.
Die Möglichkeit individueller Sinnfindung durch Musik und das aktive Musizieren, also die als bereichernd erlebte Erfahrung, mit seinem erworbenen Können etwas anfangen zu können, rückt vermehrt in den Fokus musikpädagogischer Arbeit.
Wenn wirklich jeder Mensch die Chance erhalten soll, für sich zu erleben, ob Musik und das aktive Musizieren das eigene Leben bereichern kann oder weiterhin bereichert, dann muss die Lehrerausbildung an den Hochschulen die Zuständigkeit für neue und sich verändernde Zielgruppen annehmen, ihre bisherigen Ausbildungsinhalte ergänzen und die individuellen Zielvorstellungen und Möglichkeiten der künftigen Schülerinnen und Schüler ihrer Absolventen ernstnehmen;diese neue Aufgabe gleichzeitig so verständlich in die Gesellschaft vermittelt werden, dass die Politik ihre eigene Verantwortung für die Verwirklichung der Inklusion wahrnimmt und durch verlässliche Investitionen allen Menschen optimale Förderbedingungen ermöglicht.
Beide genannten Bedingungen sind für die Umsetzung der Ziele der Inklusion Voraussetzung. Auch der zweite Aspekt ist in den Studiengängen ausreichend zu thematisieren, weil Musiklehrerinnen und -lehrer ihre neu erworbenen Kompetenzen nur gemeinsam mit der Politik und zunehmend vernetzt in Bildungspartnerschaften verantwortbar leisten können. Die größte Herausforderung wird jedoch darin bestehen, den jungen Studierenden Einsichten in eine Lebens- und Lernpraxis der neuen Zielgruppen zu gewähren, die ihrer eigenen musikalischen Geschichte zumeist weitgehend widerspricht. Jenseits der Fragestellung, ob eine künstlerische Ausbildung auch bei Senioren, kleinen Kindern oder Menschen mit Behinderung zu Kunst führt, benennt die inklusive Musikpädagogik nicht den Künstler, sondern den Menschen als ihr Ziel. Den Menschen, dem es durch seine von ihm zunehmend bewusst eingesetzten Fertigkeiten und Fähigkeiten gelingt, sich auszudrücken, sich selbstbestimmt mitzuteilen und mit sich selbst und mit anderen Menschen in Kontakt und Kommunikation zu kommen. Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Selbständigkeit und Sinnfindung sind die Ziele, die auch den Weg und die Strukturen der Ausbildung bestimmen müssen. Viele Menschen können oft mehr, als sie sich selbst und ihre Umwelt ihnen gemeinhin zutrauen. Dieses Können gilt es, gemeinsam zu entdecken, dieses Können gilt es bewusst zu machen und an dieses Können gilt es anzuknüpfen.
Zwischenstationen auf einem langen Weg
Bereits vor über 30 Jahren erkannte Prof. Dr. Werner Probst, dass Menschen mit Behinderung der Zugang zur Musik über das eigene Erleben und Tun verwehrt bleibt und weiter, dass die Lehrerfortbildung und die Kooperation mit den Förderschulen die Schlüssel zu einer Öffnung der Musikschulen auch für Menschen mit Behinderung sind. Für den Verband deutscher Musikschulen (VdM) richtete er deshalb an der Akademie Remscheid eine bis heute bundesweit einzigartige Lehrerfortbildung mit dem Thema „Instrumentalspiel für Menschen mit Behinderung und für von Behinderung Bedrohte“ ein. Der zweijährige berufsbegleitende Lehrgang bildet Musikschullehrer zu Musiklehrern für Menschen mit Behinderung weiter. Damit folgt der Trägerverband aller öffentlichen Musikschulen ganz dem Grundgedanken der Inklusion, dass sich auch das System, also die Musikschulen und die in ihr tätigen Menschen selbst, ändern müssen, wenn Menschen mit Behinderung die Teilhabe an Bildung weitgehend barrierefrei ermöglicht werden soll. Die Anerkennung der Einzigartigkeit, der Würde und der Gleichwertigkeit aller Menschen war lange vor der „Erfindung“ des Begriffs Inklusion die Basis aller Überlegungen von Probst und seinen Mitarbeitern.
Die in 30 Jahren an vielen Musikschulen in Deutschland gemachten Erfahrungen benennen Bedingungen gelingender Pädagogik in einer Musikschule für alle. Dem einzelnen Menschen verpflichtet, fordern die Erfahrungen aller Beteiligten dazu heraus, systemrelevante Bereiche inklusiver Musikpädagogik (Inhalt, Zeit, Vorbilder, Strukturen, angstfreie Lernräume, flexible Strukturen) zu reflektieren und die Qualität des Unterrichtsprozesses und seine Ergebnisse sowie die Würde der Beteiligten in das Zentrum der Überlegungen und des künftigen Handelns an musikalischen Bildungsinstitutionen zu stellen.
Robert Wagner, Vorsitzender des VdM Fachausschusses „Menschen mit Behinderung an Musikschulen/ Inklusion“