Die Kriege in Syrien und im Irak sind in Deutschland angekommen. Menschen fliehen zu Hunderttausenden und legen den langen Weg bis Europa zurück, auf der Suche nach Sicherheit und einem neuen Zuhause. Das wirft hierzulande die Frage auf, wie man mit den damit einhergehenden Herausforderungen umgehen sollte: Wie können die vielen Flüchtlinge erfolgreich integriert werden?
Die Arbeit der Clowns ohne Grenzen gibt ein Beispiel, wie sich Künstlerinnen und Künstler Menschen in Notsituationen zuwenden und eine positive Veränderung bewirken können. Der Jazz-Saxophonist Julian Schunter berichtet von musikalischen und musikpädagogischen Aspekten seiner Arbeit als Clowns-Musiker und von seinen Reisen nach Kenia, Israel und Jordanien.
Clowns ohne Grenzen ist ein Verein, der Clowns und andere Darstellende Künstler in Krisengebiete schickt, um dort ehrenamtlich für Menschen und speziell für Kinder zu spielen, die von Armut, Krankheit und Gewalt betroffen sind. Ziel ist es, Freude, Lachen und schöne Erinnerungen zu schenken. Darüber hinaus werden Workshops mit lokalen Partnerorganisationen ausgerichtet, um die Clownsarbeit weiterzutragen und nachhaltig zu gestalten. Die Idee von „Clowns Without Borders“ entstand 1993 in Barcelona. Mittlerweile gibt es Ableger in neun verschiedenen Ländern.
Musik trifft Clownerie
Die Zusammenarbeit mit den Clowns war für mich als Musiker sehr interessant, insbesondere das Aufeinandertreffen und die Integration zweier Kunstrichtungen mit ihren spezifischen Herangehensweisen. „Immer in Kontakt mit dem Publikum bleiben!“, ist die wichtigste Regel der Clowns. Die Interaktion mit dem Publikum ist aber auch für Kinderkonzerte und andere musikvermittelnde Formate zentral. Sie kann durch die Sprache oder über das gemeinsame Singen und Bewegen stattfinden. Wenn das Publikum über das rein Rezeptive hinaus zum aktiven Mitgestalter des musikalischen Geschehens animiert wird, passiert etwas zwischen den Menschen. Musik und in besonderem Maße das Singen eignen sich sehr gut, um Kinder zu integrieren, musizierend fühlt man sich schnell als eine Gruppe. Gleichzeitig wird fast jedes Kind von Musik angesprochen, auch über Sprach- und Kulturbarrieren hinweg, denn „das Singen ist die eigentliche Muttersprache des Menschen“ (Yehudi Menuhin). Methodisch bietet sich hier das Prinzip Vorsingen-Nachsingen an, Lernen durch Imitation, ohne viele Worte. Will man den Kindern in einer Vorstellung lebendige musikalische Erfahrungen ermöglichen, ist es außerdem sinnvoll, sie auch körperlich in Bewegung zu versetzen – durch Tanzen, Dirigieren, Gesten zur Musik.
Bei der musikalischen Gestaltung der Clowns-Stücke hat es sich bewährt, Percussion, Bodypercussion und Gesang mit einzubeziehen. Über elementare Spielformen lassen sich Kinder, aber auch Schauspieler oder Clowns leicht in die musikalischen Vorgänge integrieren. Die zahlreichen eingesetzten Instrumente, insbesondere die kleinen Percussion-Instrumente, übten stets eine starke Faszination auf die Kinder aus. Nach unseren Vorstellungen waren diese meist darauf aus, möglichst viele davon selbst auszuprobieren.
Das Prinzip des Spielerischen
In der Arbeit der Clowns findet sich vieles, was auch für die musikalische Arbeit mit Kindern wichtig ist: das Prinzip des Spielerischen als zentraler Bestandteil sowohl der künstlerischen Praxis der Clowns als auch der Musik und Musikpädagogik, oder auch der Aspekt der Intermedialität. Clowns integrieren verschiedene künstlerische Ausdrucksformen in ihre Darbietungen. Sie verkleiden sich, spielen Theater, sprechen, singen und spielen Instrumente, tanzen, arbeiten mit viel Bewegung und Elementen der Pantomime, beziehen ihr Publikum mit ein und improvisieren dabei immer auch zu einem gewissen Grad. Eine solche intermediale Arbeit wird auch in der Elementaren Musikpädagogik praktiziert und kann zu einem kreativen Musikunterricht und zu lebendigen Musikdarbietungen inspirieren.
Handlungen lösen Klänge aus
Es war uns von Anfang an wichtig, dass die Musik die Clownerie nicht nur hintergründig untermalt, sondern beide Bereiche ihren Raum bekommen, vor allem aber auch ineinander greifen und sich gegenseitig inspirieren und bereichern. Dabei mussten wir feststellen, dass das Klangliche schnell in den Hintergrund rückt, sobald gleichzeitig eine bewegte Aktion stattfindet. Doch muss das zwangsläufig so sein? Die Musik kann sehr unterschiedliche Funktionen einnehmen. Eine in sehr starkem Maße von der Handlung abhängige und auf sie bezogene Form der musikalischen Begleitung entspricht der Filmmusik-Technik des „Mickey-Mousing“. Die Musik ist hier stark an die Bewegungsabläufe gekoppelt und ahmt diese nach. „Mickey-Mousing“ kommt aus dem Bereich der Zeichentrickfilme und findet hier besonders große Anwendung. Eine Aktion auf der Bühne löst dabei unmittelbar einen Klang aus. Diese Klänge sind meist geräuschhaft und oftmals eine übertriebene Variante des bei der betreffenden Aktion tatsächlich zu erwartenden Geräusches. „Mickey-Mousing“ eignet sich sehr gut in Verbindung mit Clownerie und wird daher auch im Zirkus vor allem bei Clownsnummern verwendet.
Klänge lösen Handlungen aus
Neben dem beschriebenen Prinzip – Handlungen lösen Klänge aus – kann aber auch das gegenteilige sehr effektiv sein: Klänge lösen Handlungen aus. In einer unserer Szenen geht das eine Prinzip in das andere über: Ein Clown läuft über die Bühne, und immer, wenn seine Füße den Teppich berühren, welcher einen Teil des Bodens bedeckt, erklingt eine Glocke. Er bemerkt diesen Umstand und beginnt damit zu spielen, nutzt den Teppich als großes Instrument. Er entdeckt unterschiedliche Klänge, die durch unterschiedliche Bewegungen ausgelöst werden und etabliert mit der Zeit ein Rhythmuspattern. Als er jedoch aufhören will, hat der Musiker Gefallen daran gefunden und spielt das Pattern immer wieder. Der Clown merkt, dass er jetzt der Musik folgen muss. Die Klänge lösen nun die gleichen Bewegungen aus, durch die sie vorher selbst ausgelöst wurden. Der Clown wird zum Spielball der Musik, die plötzlich immer schneller wird, flehend schaut er zum Musiker. In dieser Szene treten die beiden also in Kontakt, die Grenze zwischen Handlung und Begleitmusik schwindet und der Musiker wird selbst zu einem Teil der Handlung.
Aus dem gleichen Prinzip lassen sich auch Spielideen für die musikpädagogische Arbeit ableiten. Eine Person dirigiert einen Instrumentalisten oder ein ganzes Ensemble durch Bewegungen, beispielsweise durch einfaches Gehen, und gibt dabei Tempo und Dynamik vor. Oder es werden unterschiedlichen Bewegungen oder Aktionen des Dirigenten unterschiedliche Klänge oder sogar Instrumente in der Gruppe zugewiesen. So wird der Einzelne zum Spieler auf dem großen Instrument der Gruppe.
Auftritte vor Kindern und Flüchtlingsfamilien
Im März und April 2013 reisten wir für drei Wochen mit einer sechsköpfigen Gruppe nach Kenia, wo wir für Kinder in Waisenhäusern, Kliniken, Schulen und Armutsvierteln spielten. Für einige Auftritte begleiteten wir junge kenianische Musiker und Clowns einer Organisation, die regelmäßig die Kinderstationen von Krankenhäusern besucht. Wir hatten den Eindruck, dass unsere kenianischen Kollegen durch ihre regelmäßige Arbeit zu wichtigen Bezugspersonen der oftmals verwais-ten oder von ihren Eltern zurückgelassenen Kinder geworden waren. Wir konnten viel voneinander lernen. Bei den Kenianern beobachteten wir beispielsweise, dass sie stets aktiv auf die Kinder zugingen und sie in ihre Spiele einbezogen. Für die Kenianer war wiederum unser Bühnenprogramm sehr interessant, der Clown nach europäischer Tradition ist in Afrika ein eher neues Konzept.
Unter anderem traten wir auch in einer Schule in Kibera auf, dem größten Slum Nairobis. Hier ist die extreme Armut spürbar. Der Boden zwischen den Wellblechhütten ist voll von Exkrementen und Müll, die Menschen leben ohne sauberes Trinkwasser, Toiletten und Strom. Auf dem Weg zu unserem Spielort waren wir alle sehr betroffen, doch als wir schließlich anfingen zu spielen, waren die Umstände wie vergessen. Die Kindern waren ganz dabei, lachten laut und herzlich, genau wie an jedem anderen Ort.
Europäer werden in Kenia häufig in erster Linie als Geldquelle wahrgenommen. Wir empfanden es jedoch als wertvoll, den Menschen auf einer anderen Ebene begegnen zu können. Dadurch, dass wir für sie spielten, hatten wir einen ganz anderen Zugang, die Interaktion nach den Vorstellungen war wohl ebenso wichtig wie das Spielen selbst, und vermutlich waren es für beide Seiten neue Erfahrungen.
Eine zweite Reise führte uns im Herbst 2014 nach Jordanien und Israel. Eingeladen von der Organisation Vision Hope spielten wir zunächst in Kindergärten und Schulen im jordanischen Kerak und anschließend bei israelischen Nichtregierungsorganisationen (NGO) in Jerusalem und Tel Aviv, die mit den vielen nordafrikanischen Flüchtlingen arbeiten. In Jordanien waren wir vor allem mit den Folgen des syrischen Bürgerkriegs konfrontiert. Über zehn Prozent der jordanischen Bevölkerung waren zu diesem Zeitpunkt Flüchtlinge. Das Land stand also in weitaus größerem Ausmaß als aktuell Deutschland vor der Herausforderung einer erfolgreichen Integration. Die gemeinsame arabische Sprache macht es einfacher, doch werden die Syrer sehr stark diskriminiert. Um Feindlichkeiten abzubauen, werden Flüchtlingsfamilien in der Region Kerak dezentral untergebracht, ihre Kinder gehen auf die gleichen Schulen wie die jordanischen Kinder.
Auch unsere Shows waren für alle Kinder offen, darauf legte Dirk Kleinloh von Vision Hope besonderen Wert. Der von ihm geleitete Kindergarten wird zur einen Hälfte von jordanischen und zur anderen Hälfte von syrischen Kindern besucht, 50 Prozent der Erzieherinnen kommt aus Syrien. Eine von ihnen lud uns zu ihrer Familie ein, die Herzlichkeit und Gastfreundschaft dort war berührend. Nach dem Essen saßen wir mit dem Vater im Nebenzimmer. Mit glänzenden Augen erzählte er uns, dass es früher auch in Syrien Zirkus gab. Die europäischen Zirkusgruppen blieben für drei Monate, schlugen große Zelte auf, und man musste am Tag vorher Karten kaufen, um einen Platz zu bekommen. Es gab Zauberer, Artisten, Tiere und Clowns. Jetzt gäbe es das alles nicht mehr, sagte er, jetzt würde in Syrien nur noch geschossen. Die Familie war vor zwei Jahren aus Damaskus geflohen, als die Regierungstruppen anfingen, in ihrem Wohnviertel Bomben abzuwerfen. Der Mann zeigte uns Fotos von einem Geröllhaufen, der früher mal ihr Haus gewesen war. Mit einer baldigen Rückkehr nach Syrien rechne hier niemand mehr.
Integratives Potenzial
Auf unseren Reisen haben wir viele wunderbare, freundliche und extrem engagierte Menschen getroffen, die mit großer Ernsthaftigkeit und positiver Energie für eine gute Sache arbeiten. Aus all den Erfahrungen ziehe ich Motivation und viele Ideen für weitere Projekte. Einmal mehr ist klar geworden, welche Kraft in der Musik und in den Darstellenden Künsten liegt, welche Möglichkeiten der Begegnung, des Aufeinander-Zugehens sich darin verbergen. Dieses Potenzial sollten wir nutzen, auch um der Herausforderung der Integration von Flüchtlingen in Deutschland gerecht zu werden. Aufgrund der aktuellen Flüchtlingssituation gab es in diesem und dem letzten Jahr Deutschland-Tourneen der Clowns ohne Grenzen. Die letzte wurde von dem Dokumentarfilmer Walter Steffen begleitet, es fanden Auftritte in acht verschiedenen Flüchtlings-Aufnahmeeinrichtungen statt. Der dabei entstandene Film „Happy Welcome“ kommt am 19. November bundesweit in die Kinos (www.happywelcome.de). Weitere Aktivitäten der Clowns ohne Grenzen in Deutschland sind bereits terminiert. Außerdem ist der Verein wesentlich an der türkisch-syrischen Grenze tätig, unter anderem mit Workshopprojekten für Kinder und Erwachsene. Was die Arbeit der Clowns bewirken kann, wird besonders schön durch das Zitat eines Mitarbeiters einer NGO im jordanischen Flüchtlingslager Za’atari deutlich: „Bevor ihr kamt, haben die Kinder Krieg gespielt. Jetzt spielen sie Clown.“