Der Komponist ist verstummt und ist doch zu hören. Denn Kofflers Musik wird gespielt. Jetzt. Vor dem etablierten Publikum in Düsseldorf, Hamburg oder Leipzig – und: vor Schülerinnen und Schülern in München, Ingolstadt oder Gars am Inn. Das Jewish Chamber Orchestra Munich (JCOM) gibt dem 1896 im galizischen Stryj geborenen Józef Koffler eine Stimme. Diese macht erst einmal betroffen und sprachlos.
Emotionaler Blick auf die Geschichte
„Kofflers Schicksal: Die Goldberg-Variationen“, entwickelt mit dem Dramaturgen Martin Valdés-Stauber und der Autorin Stella Leder, ist das bislang umfangreichste Projekt des Orchesters. Es wird im Zuge des Förderprogramms „Exzellente Orchesterlandschaft Deutschland“ unterstützt von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und bildet ein großes Ganzes, das Musik und Text miteinander verschränkt. „Ich möchte eine Geschichte erzählen“, sagt Daniel Grossmann. Deshalb zeigt der Dirigent des JCOM nicht allein die Tragik in Kofflers Dasein auf, sondern betrachtet diese im Kontext eines ganzen, erst einmal sehr erfolgreichen Lebens.
Der Sohn einer gebildeten jüdischen Familie begann nach dem Abitur 1914 im damals polnischen Lemberg zu studieren, wechselte nach dem Kriegsdienst in der polnischen Armee 1920 an die Universität in Wien, wo er auch promovierte. 1928, im Jahr seiner Hochzeit mit der Philologin Rosa Roth, bekam er am Konservatorium von Lemberg eine Professur für atonale Komposition und war damit einer der seltenen Zwölftonkomponisten im osteuropäischen Raum. Koffler war ein Avantgardist, dessen Werke international aufgeführt wurden. Diese erfolgreiche Geschichte endet spätestens mit der sowjetischen Besatzung Lembergs. Die formalistische, westliche Musik passte nicht ins System. Der Komponist musste sich einer anderen Tonsprache bedienen; seine große Schaffensphase war dahin. Als 1941 die deutsche Wehrmacht Lemberg eroberte, kam auch die Familie Koffler ins Ghetto von Wieliczka. 1942 wurde das Ghetto aufgelöst, die Menschen von dort verschleppt und getötet. Den Kofflers gelang die Flucht. 1944 wurden sie von der Gestapo aufgespürt und erschossen. Vater, Mutter, Kind.
Diesen Zerbruch zeichnet das JCOM nach. Das, was passiert ist, verändert alles. Und so können und sollen Kofflers Bearbeitungen der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach nach alledem nicht einfach so gespielt werden. Zehn dieser Variationen werden aufgeführt. Einer musikalischen Verfremdung unterliegt die Aria. Dazu kommen die zehn Fragmente des ausdrucksstarken Textes von Stella Leder. Jelena Kuljíc, Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele, spricht diese Worte aus, sie stammelt, sie schreit, sie schweigt. Es geht in diesem ungemein verdichteten Beitrag um das Vieldeutige der deutschen Sprache (die der Täter, die der Opfer!), das Formen von Begrifflichkeiten und die Schilderung von Ungeheuerlichkeiten.
So wird das biografisch Geschehene in einem Text gespiegelt, der beim Schrecken des Vergangenen nicht bleibt, sondern sehr geradeaus die Gegenwart befragt: Wie umgehen mit der Verantwortung, die als Erbe der Täter geblieben ist? Wie jenen begegnen, die vielleicht die Kinder der Kinder derer sind, bei denen das Morden ein Tagwerk war? Wie sprechen, wenn die Erinnerung die Kehle verschließt und: wenn andere sagen „Es reicht!“?
Der Bezug zum Thema Holocaust gehört in der Regel immer zum musikpädagogischen Ansatz des JCOM. „Wir haben die Chance, jungen Menschen einen anderen Blick auf die Geschichte zu geben. Im Konzert können sie das historisch Geschehene emotional ganz anders durchleben als im Unterricht“, sagt Daniel Grossmann. Das Erinnern mache letztlich nur Sinn in der Selbstreflexion: „Was bedeutet das heute? Was bedeutet das heute – für mich?“
Ein Angebot des Orchesters ist eine kostenlose eLearning-Plattform, die Schülerinnen und Schülern sowie weiteren Interessierten einen Einblick in das kulturelle Leben im Konzentrationslager Theresienstadt gibt. Musikalisch im Zentrum steht eine Aufnahme des letzten Werks von Viktor Ullmann, „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. In drei virtuellen 3D-Räumen findet sich unterschiedliches Material zu diesem Thema: Fotos, Zeitzeugen-Interviews, Originaldokumente, Informationen zum Komponisten und auch eine Musikaufnahme, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten lässt. Begleitend gibt es Arbeitsblätter, über die der Zugang zu immer wieder neuen Räumen eröffnet wird. Durch die Interaktion entsteht Nähe, die Begegnung mit der Vergangenheit wird unmittelbar.
Eine Art Brücke in die Gegenwart baut Daniel Grossmann in der Schulaufführung zu „Kofflers Schicksal“, wenn er sich selbst in diesem großen geschichtlichen Zusammenhang vorstellt. „Ich komme aus einer jüdischen Familie“, sagt er, nachdem er die Biografie des ermordeten Komponisten präsentiert hat. Schneller kommt man kaum vom Gestern ins Hier und Jetzt. Ein Ton ist gesetzt.
Vor den Goldberg-Variationen steht im Konzert Józef Kofflers Streichtrio op. 10 – vom Dirigenten angekündigt als ein „Werk von unglaublicher melodischer Schönheit“ und vor allem in seinem zweiten Satz von einer herzerwärmenden Innigkeit, die gefangen nimmt. Auch die Schülerinnen und Schüler. Dass die beim Konzert in den Münchner Kammerspielen dieser hochkomplexen Musik derart konzentriert folgen, habe ihn „sehr gerührt“, sagt der JCOM-Dirigent im Interview. Die Stimmung im Saal habe ein gemeinsames Ziel gefunden: „Alle wollten diesem Menschen Raum geben.“
Am Ende gelingt der Musik, wozu Worte kaum fähig sind. Selbst wenn ihr manche Stimme versagt, überwindet sie die Sprachlosigkeit. Man hört und sieht, denkt nach und versteht, erinnert sich und handelt. Hoffentlich!
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