Die 37-jährige Maria arbeitet in der Personalabteilung. Sie bleibt gerne im Hintergrund und beschreibt sich als zurückhaltend. Als Schriftführerin des Blasmusik-Vereins ist sie regelmäßig bei Proben der örtlichen Kapelle anzutreffen. Sie tanzt leidenschaftlich gern und liebt ihre steirische Heimatregion um Sankt Gallen mit imposanten Bergpanoramen und einzigartiger Pflanzenwelt.
Als sie im firmeninternen E-Mail-Newsletter von einem „kreativen Musikprojekt“ liest, wird sie neugierig: Zwei Wochen lang bekommen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Gelegenheit, mit Robyn Schulkowsky ein Musikstück zu erarbeiten und aufzuführen. Das Projekt steht unter dem Motto „Von Sternen, Nebeln und Galaxien …“ – klingt märchenhaft und reizvoll. Traut sie sich das zu? Raus aus der Beobachterposition hinauf auf eine richtige Bühne – ohne jemals ein Musikinstrument gespielt zu haben? Etwas Neues ausprobieren und im Vordergrund stehen – ob sie dem gewachsen ist? Als sich eine befreundete Kollegin anmeldet, gibt sich Maria einen Ruck und sagt zu. Doch die Unsicherheit bleibt. Bis zur ersten Probe.
Hubert ist Schlosser, seine Frau und die vier Kinder der Mittelpunkt seines Lebens. In der örtlichen Blasmusikkapelle spielt er seit 46 Jahren Euphonium. Von dem Musikprojekt erfährt er ebenso wie Maria über den Newsletter der Geschäftsleitung. Die Projektbeschreibung klingt außergewöhnlich. Das Neue reizt ihn, das Unbekannte. Wer ist Robyn Schulkowsky? Die Internet-Suchmaschine wirft 16.900 Ergebnisse aus und ihm wird klar, dass es sich um eine Weltklasse-Musikerin handelt. Hubert ist begeistert, seine Firma bietet ihm eine einzigartige Chance. Er entschließt sich sofort zur Teilnahme und kann das erste Treffen kaum erwarten.
Beide begeben sich während ihrer Arbeitszeit auf den Weg zum Probenraum, einen adaptierten Seminarraum. Neugier und Unsicherheit sind deutlich spürbar. Die Neugier bleibt, die Unsicherheit weicht rasch dem musikalischen Spiel: Vornamen werden zu Rhythmusketten, Autobauteile der Firma zu Musikinstrumenten. Anfangs wissen die beiden „mit den Magnesiumstrukturbauteilen wenig anzufangen“. Doch Robyn Schulkowsky entlockt den Bauelementen eine ungeahnte Klangvielfalt und motiviert so zum fantasievollen Explorieren. Die erste Probe vergeht wie im Flug, Maria kehrt gelöst in ihr Büro zurück. Ihre Kollegin schmunzelt, als Maria rhythmisch auf den Schreibtisch klopft.
Die Idee
Annemarie Mitterbäck zeichnet für Idee, Konzept und Durchführung des kreativen Musikprojekts „Von Sternen, Nebeln und Galaxien …“ verantwortlich. Das Thema ihrer musikpädagogischen Masterarbeit führte sie vor einigen Jahren von St. Gallen zu den Berliner Philharmonikern – als Projektleiterin bei Zukunft@BPhil sammelte sie später wertvolle Erfahrungen, die sie nun in Österreich vielfältig nutzen kann. Für ihre Heimatregion konzipierte sie ein Vermittlungsprogramm, das möglichst viele Bevölkerungsgruppen des Gesäuses neugierig auf Neue Musik machen soll: Workshops an Grund- und Hauptschulen, eine Klangwanderung und eine zweiwöchige Annäherung eines Teils der Belegschaft der Firma Georg Fischer an Klänge, Rhythmen und Strukturen der „Pléïades“ von Iannis Xenakis – so vielfältig zeigen sich die Berührungspunkte zwischen Festival und Publikum. „Ohne Musikvermittlung wären die Konzerte künstlich in die Region gepflanzt. Die Verankerung ist in diesem Fall für das Gelingen unerlässlich“, sagt Annemarie Mitterbäck.
Interessierte Laien aus der Region treffen Ensembles wie das Klangforum Wien oder die Neuen Vocalsolisten Stuttgart, Neue-Musik-Fans sitzen im Konzert neben Komponisten wie Friedrich Cerha oder Bernhard Lang, Schlosser und Lohnverrechner werden zu aktiven Musikern auf der Bühne – die besondere Atmosphäre des Festivals wird einerseits durch ein kulinarisches Programm von Schlüsselwerken der Neuen Musik geprägt und andererseits durch vielfältige kommunikative Begegnungen. Neue Musik in einer ländlichen Region schafft differenzierte Wahrnehmungen des Publikums, wenn Organisatoren, Komponisten und Interpreten sich ihrer Hörerschaft authentisch und neugierig zuwenden: Das Arcana Festival lüftet und beschwört die Geheimnisse der Musik – ganz im Sinne des Namensgebers „Arcana“, ein Orchesterstück von Edgar Varèse, das übersetzt für das Geheimnisvolle und Verborgene steht.
„Pléïades“ – das Referenzwerk von Iannis Xenakis
„Von Sternen, Nebeln und Galaxien …“ ist eine konzertpädagogische Annäherung für Erwachsene. Iannis Xenakis komponierte das Referenzwerk „Pléïades“ 1978 für sechs Schlagwerker. Es nimmt den offenen Sternhaufen der Milchstraße zum Anlass, in vier Sätzen unterschiedliche Klangfarben, Klangkonstellationen, Rhythmusstrukturen und Instrumentengruppen zu verbinden: Métaux (Metallinstrumente), Peaux (Fellinstrumente), Claviers (Xylophone und Marimbas) bilden die ersten drei Sätze, der vierte Satz – Mélanges (Mischungen) kombiniert diese drei Klanggruppen. Xenakis erlaubt, die Sätze nach Belieben aneinanderzureihen, überlässt also den Mitwirkenden nicht nur interpretatorischen, sondern auch strukturellen Freiraum in der Gestaltung und bietet damit einen idealen Ausgangspunkt für kreative Projekte mit Laien. Vor allem Métaux inspirierte Annemarie Mitterbäck, die Magnesiumteile, die in der Fabrik für Automotoren und Fahrgasträume gegossen werden, als zentrale Instrumentengruppe des neuen Werks zu verwenden und deren Kontext in einen ästhetischen Zusammenhang zu verschieben.
Musikvermittlerin und Musikerin im Team
Als Musikvermittlerin sieht sie ihre erste Aufgabe in der Ideenfindung und Konzepterstellung. Für die Durchführung selbst bittet sie die Komponistin und Percussionistin Robyn Schulkowsky, mit ihrer Begeisterung und Überzeugungskraft als Künstlerin Impulse zu setzen. Gemeinsam reflektieren sie jeden Schritt in der Entwicklung des Workshops, tauschen ihre Gedanken zu den Ergebnissen und Potentialen der Beteiligten aus und bereiten die jeweils nächste Etappe für die Erarbeitung des gesamten Stücks vor.
Das Projekt findet über zwei Wochen zwei Stunden täglich statt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tasten sich über eine stressfreie Phase der Improvisation, rhythmischer Spiele und der Erkundung des außergewöhnlichen Instrumentariums zur Verfestigung der einzelnen Kompositionsteile. „Nach vier Tagen waren sie ein richtiges Ensemble“, schwärmen Annemarie Mitterbäck und Robyn Schulkowsky, die dank der großzügig bemessenen Zeit viele Ziele der Musikvermittlung wie Exploration, individuelle Klangrecherche oder die Entwicklung eigener Ideen der Teilnehmenden auch tatsächlich umsetzen können.
Standing Ovations krönen die Mühen am Abend der Aufführung. Management und Belegschaft, Festivalgäste und Familienangehörige füllen die Versandhalle des Betriebs bis auf den letzten Sessel. Sie lauschen gespannt, wie sich Sterne, Nebel und Galaxien in Sitzlehnenrahmen, Hutablagen und Motorwannen verbergen und enthüllen gemeinsam mit den Musikerinnen und Musikern die klanglichen Geheimnisse von Iannis Xenakis. „Ich glaube, dass man sich diese Offenheit ein Stück weit mitnimmt“, hofft Maria nach dem Konzert und lässt sich stolz und erfüllt von ihrer Familie feiern.
Was bleibt
Die Überwindung hat sich gelohnt. Maria ist froh, „aus den geregelten Bahnen“ ausgebrochen zu sein, um Neues zu erforschen. Die Teamarbeit wird sich auch auf den Arbeitsalltag im Betrieb positiv auswirken. Hubert ist begeistert, dass sich sein blasmusikerprobtes Musikinstrument auch für Neue Musik bestens eignet. Dass die Teilnahme bei diesem Projekt seine Wahrnehmung von Musik derart erweitern würde, hatte er nicht erwartet: „Nie habe ich mir Gedanken gemacht, wie Nebel oder Sterne klingen. Jetzt frage ich mich das! Früher hat alles irgendwie geklungen. Jetzt höre ich auf einmal überall Musik.“
- Es wird eine Filmdokumentation des Projekts erscheinen. Nähere Infos dazu unter: www.arcanafestival.at.