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Achteckige Klangschale im ehemaligen Krematorium: Kulisse für die „RundfunkchorLounge“. Foto: Lovis Ostenrik
Achteckige Klangschale im ehemaligen Krematorium: Kulisse für die „RundfunkchorLounge“. Foto: Lovis Ostenrik
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Ganz nah dran am großen Chor

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Der Rundfunkchor Berlin erprobt mit der „RundfunkchorLounge“ ein neues Gesprächskonzertformat
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Mit einer „Lounge“ hat der Rundfunkchor Berlin ein neues Konzertformat ins Leben gerufen, bei dem das gesungene und das gesprochene Wort sich in salonähnlicher Atmosphäre begegnen. Als Veranstaltungsort fungiert ein ehemaliges Krematorium.

Acht Ecken hat der Raum. Das sind so viele, dass er fast schon wieder rund ist. Das ehemalige Krematorium im Berliner Bezirk Wedding ist nicht nur in architektonischer Hinsicht eine Sehenswürdigkeit, sondern fungiert seit ein paar Jahren unter dem Namen „silent green“ auch als sehr lebendige Behausung für allerlei Kulturgewese. Ein Café im Foyer ist dem eigentlichen Veranstaltungssaal angeschlossen, im Sommer lässt es sich in den Pausen draußen im Grünen weilen. Akustisch angenehm – nicht zu viel Hall, nicht zu wenig –, ist der sanft-eckige, hohe Hauptsaal des Krematoriums eine in jeder Hinsicht schöne Klangschale für Chorauftritte. Nicht für den ganz großen Bahnhof, wohlgemerkt, dafür ist die Räumlichkeit zu klein und familiär.

Doch genau dieser etwas private Rahmen prädestiniert das „silent green“ als Location für das experimentelle Veranstaltungsformat, mit dem der Rundfunkchor nun schon in der zweiten Saison unterwegs ist: die „RundfunkchorLounge“. Ein ziemliches Wortungetüm, eigentlich, das aber seltsamerweise nicht selbst zum Thema wird am Abend des 24. Januar, als Gayle Tufts geladen ist, eine Lounge zum Thema „Die Macht der Sprache“ zu moderieren. Natürlich könnte das niemand besser als die Ex-Amerikanerin (jetzt: mit deutschem Pass), die durch ihre legendären Soloauftritte als mit der deutschen Sprache hadernde Fremdzünglerin einst das „Denglish“ in Deutschland salonfähig gemacht hat.

Eine RundfunkchorLounge hat nämlich jedes Mal ein Thema. Um dieses herum werden ein paar interessante Menschen eingeladen, sowie eine – jedes Mal wechselnde – Person, die das Ganze moderiert. Zwischen den Wortbeiträgen wird gesungen, beziehungsweise umgekehrt. Und da der Raum ja, wie gesagt, im Grunde rund ist und zudem nach oben hin über zwei Galerien verfügt, kann man ihn von der Aufstellung her sehr variabel bespielen.

Für „Die Macht der Sprache“ hat man sich als Gesprächspartner und zusätzlichen Programmpunkt den Slampoeten Bas Böttcher dazugeholt, außerdem wird die Leiterin des Zentrums für Sprachbildung Martina Reynders interviewt, Chefdirigent Gijs Leenaars plaudert aus seinem multilingualen Künstlerleben, und der Tenor Holger Marks, der einen Soloauftritt hat, stellt sich vor. Auch die musikalischen Nummern nehmen bei einer „Lounge“ die unterschiedlichsten Formen an. Große Chornummern, kleinere Ensemble-Formationen und Soli sind dabei, und jedes Mal haben ein, zwei Chormitglieder die Gelegenheit, solistisch ihr Können zu präsentieren. Und wann hat man als Chorleiter sonst schon die Möglichkeit, John Cages „Living Room Music“ aufzuführen? Als „Stück für vier Nerds“ bezeichnet Leenaars die Komposition, für deren Durchführung sich als Instrument im Grunde alles eignet, was sich im Haushalt so findet und mit dem sich ein Geräusch erzeugen lässt. Auch eine halbgefüllte Aldi-Wasserflasche, wie sich an diesem Abend beobachten lässt, klingt gar nicht so schlecht. Sitzen also vier Nerds um einen Tisch, jeder mit einer aufgeschlagenen Zeitung vor sich, in welche die Noten eingeklebt sind. „Once upon a time… the world was round“ erfahren wir. Zwischendurch wird in dem vierstimmig rhythmisierten Sprechstück sehr ernsthaft perkussiv mit Besteck und Flaschen hantiert.

Das Werk ist als inhaltlicher Nachklapp zu Ernst Tochs „Fuge aus der  Geographie“ programmiert, mit der die Lounge begonnen hat – und zwar musikhistorisch korrekt um eine Variante ergänzt, die Toch eigentlich im Sinn gehabt haben soll, als er das Sprechstück für Chor („Ratibor! Der Popocatepetl liegt nicht in Kanada, sondern in Mexiko, Mexiko, Mexiko!“) in den dreißiger Jahren schrieb. Die „Fuge“, so erfahren wir, war nämlich gar nicht unbedingt für den Live-Auftritt bestimmt, sondern sollte aufgenommen und in anderem Tempo wieder abgespielt werden. Genau das tut DJ Jueri Gagarino für die Lounge; und man muss sagen, dass das schnellere Tempo (ist natürlich ziemlich lustig) dem Stück sehr gut tut.

Und dann wird natürlich auch noch gesungen. Der Abend hält für den großen Chor neben einem weiteren Cage auch noch ein richtig großes Tutti-Stück bereit: Brahms’ „Schicksalslied“ (in der Fassung für zwei Klaviere), für das die Sängerinnen und Sänger im Halbrund den Raum umstehen und der volle, ausgewogene Chorklang vollendet zur Geltung kommt. Erstaunlich eigentlich, dass die sonst so ironisch-heitere Note dieses Abends so gar nicht gestört wird vom deutsch-erdenschweren Chorklassiker. Das mag damit zusammenhängen, dass Gijs Leenaars dessen musikalische Gedankenschwere in einem irgendwie beschwingt-fließenden Gestus auffängt, so dass die Macht des Schicksals einen hier im Krematorium nicht niederdrückt, sondern eher davonträgt.

Vor der Pause übrigens gab es sogar wahrscheinlich noch eine Uraufführung. Zumindest wisse er nichts davon, sagt Leenaars – der den Klavierpart bestreitet –, dass der niederländische Komponist Louis Andriessen, aus dessen Händen er die Noten empfangen habe, seine „Four Songs“ schon einmal anderweitig verwertet habe. Es handelt sich um vier Lieder für Tenor, deren Melodie und Text jeweils von den Beatles sind, deren kompositorische Umsetzung aber aus verschiedenen Jahrhunderten zu stammen scheint. Als Komponisten hätten sie Fauré, Purcell, Debussy und Händel ausgemacht, sagen Leenaars und Holger Marks, der den Gesangspart sehr beseelt und in einem zwischen Rock und Renaissance angesiedelten Gestus zum Besten gibt.

Das sehr aufmerksame Publikum spart am Ende nicht mit Applaus, doch einigen Menschen sieht man an, dass sie heilfroh sind, endlich aufstehen zu dürfen. Die knautschigen Sitzkissen, die für einen Teil der Zuschauerschaft vorgehalten werden, verlangen bei längerem Verharren eine gewisse körperliche Fitness. Vielleicht eine listige Vorabmaßnahme, um eine altersmäßige Durchmischung des Publikums zu gewährleisten? Feste Plätze gibt es hier nicht. Wer einen Stuhl ergattern will, muss früh kommen, denn das „silent green“ ist schnell mal ausverkauft. Der Vorverkauf für die dritte und letzte Lounge dieser Saison, die am 9. Mai stattfinden wird, hat bereits begonnen.

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