Die im Zuge der Bildungsreform der 60er-Jahre zunehmende Berücksichtigung popularer Musik im Unterricht an weiterführenden Schulen wurde als notwendige Abwehrstrategie vor kulturindustrieller Manipulation begründet. Im Sinne eines durch das Mündigkeitspostulat geleiteten Bildungsverständnisses galt es, im schulischen Musikunterricht das Bedingungsfeld und die Wirkungsweise popularmusikalischer Ausdrucksformen vom Schlager bis zum Pop-Song aufzudecken und dadurch den zu unkritischer Identifikation mit den Pop-Stars neigenden Jugendlichen die Chance zur kritischen Distanz und letztlich zur Urteilsfähigkeit im Bereich dieser musikalischen Idiomatik zu bieten. Es entwickelte sich aus dieser Zielsetzung heraus eine eigenständige „Didaktik der Popularmusik“. Sie stellte dem Lehrenden unter exemplarischen Gesichtspunkten ausgewählte Unterrichtsmaterialien zur Verfügung und bot Verfahrensweisen zur Analyse und Interpretation popularer Musik an.
Sehr bald stellte sich heraus, dass die Unterrichtsinhalte starker Fluktuation ausgesetzt waren, da ihre Auswahl fast ausschließlich dem Prinzip der Aktualität unterworfen war. Diese wiederum war längst nicht mehr geleitet durch jugendpsychologische Reflexion, sondern wurde zunehmend stärker gesteuert durch die Distributionsmechanismen der Musikindustrie.
Die Didaktik der Popularmusik war schnell der Gefahr der Fremdsteuerung durch die Gesetze des Marktes ausgesetzt. Der Auswahlprozess der Unterrichtsinhalte erfolgte nicht mehr auf der Basis der Wertung, sondern wurde bestimmt durch die vom Markt angebotenen Hit-Listen. Diese Tendenz verstärkte sich bis in die Gegenwart hinein.
So werden heute Liederbücher für den Musikunterricht konzipiert, deren Inhalt fast ausschließlich durch eine popularmusikalische Idiomatik bestimmt ist, von der man weiß, dass sie nur für eine relativ kurze Zeit das Interesse der Jugendlichen weckt und sehr bald von neuartigen, durch den Musikmarkt gesteuerten Angeboten verdrängt wird. Zwar wird der Versuch gemacht, eine gewisse über den Tag hinaus wirkende Bedeutsamkeit der Songs durch zeitgeschichtliche Informationen und interpretatorische Bemerkungen herauszustellen, doch bleiben diese häufig recht vordergründig und werden sogleich durch marktorientierte Hinweise auf Hit-Listenplätze und verkaufte Titel im Interesse der Musikindustrie umfunktioniert. Nur selten gelingt es, sich aus der Umklammerung des Marktes zu befreien und den popularmusikalischen Inhalten eine bewusstseinsbildende Richtung zu geben.
Die Erfahrung bestätigt, dass popularmusikalische Unterrichtsinhalte sich weitgehend der Reflexion entziehen. Ihre musikdidaktische Valenz liegt eher auf dem Feld der Musikpraxis. Hier können sie durch geeignete Arrangements die Musizierfreude auch derjenigen Schülerinnen und Schüler wecken, die aus den verschiedensten, nicht zuletzt auch sozialen Gründen nicht in den Genuss einer privaten oder durch die Musikschulen geförderten Musikausbildung kommen.
Musikalische Stereotypen
Allerdings sollten die Grenzen einer einseitig popularmusikalisch ausgerichteten Schulmusikpraxis deutlich aufgezeigt werden. Das Musizieren beschränkt sich weitgehend auf die reproduzierende Realisation musikalischer Stereotype: die Begleitung melodischer Abläufe vollzieht sich durch rhythmische „Pattern“, die lediglich wiederholt werden; harmonische Begleitmuster sind auf wenige Akkordwechsel reduziert; die Melodik selbst ist stark formelhaft, so dass durch eine popularmusikalische Vokalpraxis das Tonvorstellungsvermögen nur begrenzt entwickelt wird. Es sollte von einseitigen Verfechtern einer popularmusikalischen Didaktik nicht verschwiegen werden, dass der im Prinzip repetitive Einsatz der musikalischen Primärkomponenten (Rhythmik, Melodik, Harmonik) in der Popmusik eine musikalisierende Wirkung nur in begrenztem Maße ermöglicht.
Aus dieser Erfahrung heraus sollte auch der Einbezug popularmusikalischer Inhalte in die Gesamtplanung des schulischen Musikunterrichts begrenzt sein. Die vielerorts zu beobachtende Dominanz der Popmusik im Unterricht entspricht nicht dem Auftrag der Schule, junge Menschen auf das Verständnis der gesamten Musikkultur vorzubereiten, sie musikalisch zu entkulturieren. Ihnen die vielfältigen Ausdrucksformen der musikalischen Hochkultur mit dem Argument vorzuenthalten, sie entsprächen nicht „ihrer Musik“, ist zutiefst menschenverachtend. Kann sich der schulische Musikunterricht angemessen legitimieren, wenn er es nicht zu seiner zentralen Aufgabe macht, eine kulturelle Trägerschicht zu erziehen, deren Rezeptionsverhalten auf individuelle Urteilsfähigkeit gründet und vor musikindustrieller Vereinnahmung geschützt ist?
Wie kann die schulische Musikerziehung der wachsenden Abhängigkeit von der Musikindustrie entgegenwirken? Notwendig ist eine erneute Entideologisierung der Schulmusik: Im Zuge der in den 60er-Jahren einsetzenden berechtigten Traditionskritik hat sich ein Nebeneffekt herausgebildet, der hinsichtlich des musikalischen Kulturbegriffs allerdings von verhängnisvoller Tragweite wurde. Statt sich mit dem Ziel einer zu begreifenden Tradition ihren substantiellen Inhalten durch analytische Bemühung zuzuwenden, ordnete man „klassische Musik“ kurzerhand und unbedenklich einer als „bildungsbürgerlich“ apostrophierten Gesellschaftsschicht zu, deren Anspruch durch ein vermeintlich demokratisches Bildungskonzept abgelöst werden sollte. Diese unreflektierte, ganz und gar ideologisch motivierte Position gewann auf dem Feld der Schulmusikerziehung zuneh-mend stärker an Boden und führte nach und nach zu der aus der Balance geratenen Planungssituation, die heute zu beobachten ist: Die anfänglich peripheren Ausdrucksformen der Popularmusik (damals noch als „subkulturell“ eingestuft) rückten mehr und mehr ins Planungszentrum, während die Ausdrucksformen der „klassischen“ Musik an den Rand gedrängt wurden. Das Vorantreiben dieses Prozesses bedurfte keiner großen Anstrengung, da das musikindustriell gesteuerte Rezeptionsverhalten der Jugendlichen ihm entgegen kam. Die von führenden Schulmusikpädagogen für den musikalischen Bildungsprozess ausgegebene leitende Parole, die Schüler dort abzuholen, wo sie seien, hat sich in der Schulwirklichkeit zumeist leider so ausgewirkt, dass sie dort stehen bleiben, wo sie – mediengesteuert – sich befinden. Ein Bildungsprozess, der auf das Verstehen komplexer musikalischer Kunst gerichtet ist, vollzieht sich heute nur noch ansatzweise und in Ausnahmesituationen.
Entfremdung von der Klassik
Inzwischen ist es dahin gekommen, dass – unter dem Vorwand einer „praxisnahen“ Musiklehrerausbildung – manche Ausbildungsinstitute sich im didaktischen Bereich stärker an popularmusikalischer Idiomatik orientieren als an „klassischer“ Idiomatik, so als sei der Umgang mit der Musik Bachs, Mozarts oder Beethovens praxisfern.
Die – auch finanziell – aufwendige künstlerische Ausbildung der Studierenden dient zuweilen eher einem privaten Ästhetisierungsprozess als der Vorbereitung auf eine gesellschaftsdienliche schulmusikalische Berufspraxis, deren zentrales Anliegen die Vermittlung einer musikalischen Hochkultur sein müsste mit dem Ziel, die Kontinuität der Musikkultur zu garantieren.
Es stimmt nachdenklich, wenn man das Engagement zahlreicher aus der ganzen Welt an deutsche Musikhochschulen strömender junger Menschen für „klassische“ Musik vergleicht mit dem mangelnden Einsatz vieler Schulmusikerzieher für diese Tradition. Dem fortschreitenden, bildungspolitisch und auch institutionell geförderten Entfremdungsprozess von „klassischer“ Musik sollte nunmehr Einhalt geboten werden.