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Anders sein ist auch normal. Foto: Christian Kathrein
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Gemeinsam für eine inklusive gesellschaftliche Entwicklung

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Kommentar zu zwei Artikeln in der Dezember-Ausgabe der nmz · Von Robert Wagner
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Prof. Dr. Irmgard Merkt lenkt in ihrem Beitrag (nmz-Hochschulmagazin 12/2014, Seite 1f.) den Blick sachlich auf die Ausbildungsstätten derjenigen, die die „Teilhabe“ aller Menschen an musisch-kultureller Bildung ermöglichen sollen und stellt den Musikhochschulen ein insgesamt vernichtendes Zeugnis aus. Anja Bossen verpackt die kopflosen Versuche, die Teilhabe aller durch ein sich fortwährend neu erfindendes JeKi-JeKits Programm zu erreichen, in eine bitterböse Satire (nmz 12/2014, Seite 39). Zur Abrundung sei den Darstellungen eine zunehmend unpolemische Ergänzung hintangestellt:

Eine zahnlose Gestaltungsinstanz in Sachen „Bildung und Werte“ (das Berliner Parlament), eine Forschung und Lehre, die nichts macht und eine Praxis, die nicht denkt, treffen auf eine Verwaltung, der das gerade recht ist. Und wenn dann nicht Institutionen, sondern deren Menschen real aufeinander treffen, dann verabschieden diese sich nach einem intensiven Gespräch mit dem gefühlten Wissen, dass der jeweils andere die eigenen Schwierigkeiten noch gar nicht in vollem Umfang kennt und mit der unbedingten Absicht baldmöglichst, also zeitnah, über Doodle einen Termin zu finden, das wichtige Gespräch fortzusetzen.

Musikschulen werden keinen Beitrag zur Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft leisten können, solange Musikhochschulen die Musikschulen vor allem als Zulieferer geeigneter künstlerischer Begabungen verstehen, anstatt sich auch als notwendige Ausbildungsstätte für Lehrkräfte inklusiver Musikschulen zu begreifen und ihre Forschung und Lehre daraufhin auszurichten, für die pädagogische Praxis in den Musikschulen inklusive Haltungen, Methoden und Materialien zu entwickeln. Da der politische Auftrag „inklusive Bildung als Leitidee in der Aus-, Fort- und Weiterbildung zu verankern“ (KMK 2012) ohne nennenswerten Widerhall von den Musikhochschulen ausgesessen wird, machen sich die Musikschulen mit immer neuen JeKi-JeKits Modellen selbst auf, Wege der Teilhabe zu suchen.

Mit der Potsdamer Erklärung (2014) verpflichten sich alle Musikschulen im Verband deutscher Musikschulen, die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft (beschlossen vom deutschen Bundestag 2009) zu unterstützen. Sie tun dies, indem sie selbst zu inklusiven Bildungseinrichtungen werden und das Leitbild der Inklusion Schritt für Schritt umsetzen. Viele dieser Schritte wurden im VdM und in manchen Musikschulen bereits gegangen. Vieles kann bleiben, wie es ist. Der öffentliche Bildungsauftrag der Musikschulen, die bestmögliche musikalische Förderung ihrer Schüler, Breiten- und Spitzenförderung bleiben unangetastet bestehen. Inklusive Musikschulen bleiben Angebotsschulen und gestalten attraktive Angebote, um neue Schüler zu werben und alte Schüler zu binden.

Teilhabe bedeutet, bisheriges Handeln zu ergänzen

Neu für viele Musikschulen und für die in ihr arbeitenden Menschen ist allerdings, dass das Leitbild der Inklusion von öffentlichen Bildungseinrichtungen fordert, auch denjenigen Menschen ein ihnen gemäßes Angebot auf Teilhabe zu machen, die den Weg in die Musikschule bisher nicht gegangen sind oder nicht gehen konnten. Das Recht aller Menschen auf Teilhabe an musischer Bildung fordert die Musikschulen auf, aktiv zu werden und ihr bisheriges Handeln zu ergänzen.

Neu ist also die Verantwortung dafür, ob das Angebot wirklich alle erreicht. Solange Wartelisten den Musikschulen – mit ausdrücklicher Billigung der öffentlichen Meinung – die Wahl ließen, wer eine Förderung verdient, war diese Frage nachrangig. Jetzt, da die Musikschulen sich rechtfertigen müssen, ob sie eine mögliche Teilhabe aller gewährleisten, gelten andere Vorgaben.

Eine aufsuchende Bildungsarbeit, ein aufsuchendes Angebot, das dort gemacht wird, wo die Menschen sind, denen es gilt, also in den Kulturvereinen, den Förderschulen, den Werkstätten für Menschen mit Behinderung, den Altenheimen und zunehmend auch in Kooperationen in den allgemeinbildenden Schulen muss anders „attraktiv“ sein, als das bisherige Angebot. Es muss an erster Stelle niederschwellig sein. Es kann also nicht um ein „Casting“ gehen, sondern es müssen vertrauensbildende Maßnahmen gestaltet werden, die durch positive Erfahrungen bei den Menschen Neugierde auf ein vertiefendes „aktiv werden“ wecken. Denn um dieses „aktiv werden“ wird es auch unter inklusiven Vorzeichen weiterhin gehen. Das Recht auf Teilhabe ersetzt nicht die Notwendigkeit einer aktiven Teilnahme.

Dieser Teilnahme stehen jedoch viele unterschiedliche Barrieren im Wege. Musikschulen, die sich einem inklusiven Prozess stellen sind – neu – zuständig für die Beseitigung von Barrieren, die einer Teilhabe entgegenstehen. Und hier sind nicht nur – aber auch – die finanziellen Barrieren oder die viel zitierten fehlenden Aufzüge und Rampen zu berücksichtigen. Es geht in erster Linie um die Haltung der Lehrkräfte, die das Angebot machen, aber auch um die Haltung derer, die für die Finanzierbarkeit des Angebotes zuständig sind, also die Kommunal- und Landespolitiker und die Sponsoren und Förderer.
Die Argumentationsketten für eine nachhaltige Finanzierung musikalischer Bildung müssen neu und anders verwoben werden, wenn das Recht auf Teilhabe und auf individuelle Sinnfindung jedes Menschen durch Musik und aktives Musizieren umgesetzt werden muss oder will. Die finanzielle Unterstützung der Musikschulen muss sich von der bislang üblichen Fremdbewertung der Leistungen „musikalisch – unmusikalisch“ weiterentwickeln. Hier sind – neu – die Musikschulen gefordert, Aufklärungsarbeit im Sinne der Inklusion zu leisten, da eine inklusive Musikschule auf „Verstehen und Begreifen“ und Handeln aller angewiesen ist.

Barrieren gibt es also nicht nur bautechnisch sondern auch – neu – organisatorisch zu beseitigen, um Menschen niederschwellig zu begegnen. Dies ist ein besonders heikler Aspekt, da die Beseitigung von Barrieren oftmals unreflektiert unter dem Siegel einer falsch verstandenen „Willkommenskultur“ auch fachimmanente Gelingensbedingungen von Pädagogik preisgibt. Als Beispiel sei an dieser Stelle nur der zeitliche Aspekt genannt: „Du musst nicht üben, also keine Zeit investieren, du musst dich vertraglich nicht binden, du musst nicht regelmäßig kommen…“

Hierbei geht es zwar vordergründig um die Beseitigung von Barrieren, gleichzeitig werden aber die für die Motivation so wichtigen Erfolgsmomente verhindert. Auch hier ist wieder Aufklärungsarbeit nötig, verbunden allerdings mit der klaren Ansage, dass das Angebot der Musikschule eine Verpflichtung zur Einhaltung von Regeln beinhaltet. Es muss darum gehen, dass Eigenaktivität und erfolgreiches Lernen zueinander gehören.

Dann wird es vor allem um die konkrete Umsetzung einer inklusiven Musikpädagogik im täglichen Unterrichtsalltag gehen. Diese verlangt, auch wieder von Erziehung zu sprechen. Von einer Erziehung zur individuellen Sinnfindung durch Musik. Es benö-tigt den Mut, Musik als natürlich zum Menschen gehörend zu begreifen und deshalb in erster Linie ein Spiel mit festen Regeln zu lehren und vernünftigerweise erst an späterer Stelle Musik als Kunst zu stilisieren. Das Handwerk Musik braucht handliche, dem Menschen gemäße Bausteine.

Es wird um frühe musikalische Erfolgserlebnisse gehen, und um die Einsicht, dass diese in der Gemeinschaft mit anderen, also in der Gruppe, leichter zu erzielen sind. Es wird also um eine Kultur der fächerübergreifenden Kooperation im eigenen Haus, im Lebensraum Musikschule gehen und nicht nur um die Vernetzungen in der kommunalen Bildungslandschaft. Konkret also um die Bereitschaft aller Kollegen, sich als Musiklehrer zu verstehen und erst in zweiter Linie als Gitarren- oder Klavierlehrer.

Individuelle Entwicklung in heterogenen Gruppen

Es wird um die Erkenntnis gehen, dass Vielfalt in der Gruppe, im Ensemble und im Gruppenunterricht, ein Gewinn sein kann – für die Gruppe, aber auch für jeden Einzelnen, weil eine individuelle Entwicklung in heterogenen Gruppen erst möglich ist. Es wird darum gehen, zuzugeben, dass der Einzelne nur durch andere zum Individuum wird. Es wird darum gehen, mehr und mehr Verantwortung auf die Schüler zu übertragen, also Vertrauen zu zeigen – Zutrauen, gestützt auf ein Vertrautsein der Schüler mit dem sicheren Umgang mit Spielregeln und situationsbedingt richtig eingesetzten Bausteinen.

Es wird im Zusammenhang mit Erziehung auch um realistische Selbsteinschätzung gehen. Um realistische Zielformulierungen und um eine angemessene Art und Weise der Mitwirkung an der Gestaltung eines Werkes. Es wird um die gemeinsame Entdeckung, um die Förderung und um die Wertschätzung des „Eigenen“ gehen als Voraussetzung einer gesunden Beziehung mit anderen. Es wird – auf welchem musikalischem „Niveau“ auch immer – um das für sich „selbstverständliche Musizieren“ gehen; denn nur das Verstandene kann selbstbestimmt verwendet und verantwortet werden.

Es wird im Lebensraum Musikschule um die Bereitschaft gehen, sich als Solidargemeinschaft zu begreifen und um die Fähigkeit, einerseits Bewährtes zu verteidigen und gleichzeitig neue Erkenntnisse umzusetzen. Dass jeder Mensch durch ko-konstruktive Prozesse in der Gemeinschaft besser lernt zum Beispiel. Es geht darum, sich dem zu stellen, dass ein erfolgreicher Instrumental- oder Vokalpädagoge noch lange kein guter Musikschullehrer ist und dass viele verschiedene erfolgreiche Instrumentallehrer die Ansprüche einer inklusiven Musikschule noch lange nicht erfüllen … Es geht darum, dass die Musikschule ein Modell dafür wird, wozu sie erzieht, nämlich zur Bereitschaft, den eigenen Lebensraum mitzugestalten und Verantwortung zu übernehmen. Es geht auch darum, dass der VdM selbst seinen eingeschlagenen Weg weitergehen und selbst zu einem Modell dafür werden muss, wie er sich inklusive Musikschulen vorstellt.

Nicht zuletzt geht es um ein grundsätzliches sich Auseinandersetzen mit und um ein Offensein für Vielfalt. Die inklusive Pädagogik nimmt Vielfalt nicht nur wahr, sondern stellt sich dieser Vielfalt gleich, ob es um Alter, Geschlecht, nationale Herkunft, Begabung oder Behinderung geht. Sie stellt sich, indem sie auch hier das jeweils „Eigene“ wertschätzt und gleichzeitig die Offenheit aller fördert und fordert, indem die Wertschätzung des Eigenen als Bereicherung für alle erlebt wird: alt und jung, „In- und Ausländer“, Mann und Frau …

Eine Musikschule ist nicht dann bereits inklusiv, wenn sie Schülern anderer Kulturen in Konzerten ein Forum bietet und stillschweigend toleriert, dass diese Schüler wiederum ihre Kultur und ihre Tradition über die anderer Kulturen stellen oder die Würde anderer – zum Beispiel von Frauen – nicht achten.

Dinge beim Namen nennen, ohne zu diskriminieren

Eine inklusive Musikschule, wie auch eine inklusive Gesellschaft, zeichnet sich nicht dadurch aus, dass eine Weltanschauung vollständig und der „wahren Lehre“ entsprechend umgesetzt wird, sondern dass sie jedem Menschen – der dies will – die Teilhabe ermöglicht (nicht „gewährt“!) und diesen individuell bestmöglich fördert.

Gerade deshalb darf es in inklusiven Musikschulen selbstverständlich auch besondere Gelegenheiten geben, in geschützten Räumen zu lernen und sich zum Beispiel als Erwachsener in exklusiven Vorspielen für Erwachsene zu präsentieren. Deshalb darf es selbstverständlich auch Ansprechpartner, Experten und Abteilungen für Menschen mit Behinderung an Musikschulen geben. Dies aber immer verbunden mit vielfältigen Angeboten der Begegnung im Unterricht und in Vorspielen und Projekten. Wir müssen lernen, Dinge beim Namen zu nennen, ohne zu diskriminieren.

Weder wird „der Alte“ davon jünger, dass man sein Alter verschweigt, noch wird ein Mensch von seinem offenen Rücken „befreit“, wenn man – in bester Absicht nicht zu stigmatisieren – lediglich von einer „anderen Lebensform“ spricht. Auch wird der „faule“ Schüler nicht dadurch in die Lage versetzt, die „erste Geige“ in einem Konzert zu spielen, indem man darauf verzichtet, ihm die Folgen seiner Faulheit für sich, für die anderen Mitspieler und für die Qualität des geplanten Konzertes nahe zu bringen, wenn er hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Die Herausforderung einer inklusiven Musikschule liegt vielmehr darin, jedem Menschen eine ihm gemäße Chance zu geben, die Musik als Bereicherung seines Lebens zu erfahren. Die Musikschulen sorgen dafür, dass viele Menschen Musik machen wollen und alle – die wollen – mitmachen können.

Die Herausforderung besteht darin, den Menschen den Mehrwert einer inklusiven Musikschule erfahrbar zu machen, den Trägern, den Schulleitungen, den Lehrkräften, den Gebührenpflichtigen, also den Eltern und den Schülern. Die Herausforderung besteht darin, dass alle Bildungsinstitutionen sich individuell ihrer gemeinsamen Verantwortung für eine inklusive gesellschaftliche Entwicklung stellen.

Der Weg wird kein leichter sein. Der Mensch ist, wie er ist. Jede erwartete und auch nur vermutete Änderung der eigenen Lebensumstände wird mit Vorsicht oder Ablehnung aufgenommen. Das ist normal. Anders sein ist auch normal.

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