Nach ihrem Studium in England war Alicia de Bánffy-Hall maßgeblich daran beteiligt, das Feld der Community Music (CM) in Deutschland zu etablieren. Juan Martin Koch hat mit der Professorin für Musik in der sozialen Arbeit / Community Music der Hochschule Düsseldorf gesprochen.
neue musikzeitung: Wie haben Sie die Anfänge der Community Music in Deutschland erlebt?
Alicia de Bánffy-Hall: Als ich 2012 nach Deutschland zurückkam, um zu promovieren, war die Frage, wo das Thema Community Music hier überhaupt hingehört. Ich habe mich dann auf München fokussiert und habe viele Interviews mit Akteur*innen in Kulturpolitik und Musikpraxis, aber auch mit forschenden Personen geführt, um die verschiedenen Blickwinkel einzubeziehen, die irgendwie damit zu tun hatten. Aus diesen Gesprächen hat sich die Münchner Community Music Aktionsforschungsgruppe entwickelt, in der wir ganz grundsätzlich über den Begriff diskutiert und uns gefragt haben: Brauchen wir überhaupt ein neues Wort für eine Praxis, die es ja damals auch in Deutschland schon gab? Und wenn ja, wollen wir ein englisches Wort? Und wenn ja, wollen wir genau dieses? Wir habe dann gemerkt, dass es eigentlich keinen deutschen Begriff gibt, der das spiegelt, worum es hier geht, und sahen auch keinen Grund, ein neues englisches Wort zu erfinden.
nmz: Sie haben keine deutsche Entsprechung gefunden, weil das englische „community“ sehr vieles umfasst und die deutschen Entsprechungen nicht so recht funktionieren?
Bánffy-Hall: Ja, „community“ kann man ja mit mit mehreren Begriffen übersetzen: mit Gemeinde, Gemeinschaft, Nachbarschaft… Die deutschen Übersetzungen sind viel enger. Der wichtigste Grund, bei CM zu bleiben, ist aber die Tatsache, dass es einen gewachsenen, jahrzehntealten, theoretischen und praktischen Diskurs und eine Praxis gibt. Es kann das Feld nur stärken, wenn wir uns damit auseinandersetzen. Wir müssen nicht alles neu erfinden.
nmz: Der Begriff ist also gesetzt, was genau ist nun mit CM gemeint, um welche Communities geht es?
Bánffy-Hall: Das kommt immer darauf an, in welchem Kontext sie stattfindet, also wer die Arbeit initiiert und für wen sie sein soll. Das kann natürlich eine geographische Community sein, also ein Stadtviertel oder eine Nachbarschaft in der Nähe einer Organisation. Die Community Music Abteilung des Konzerthauses in Dortmund zum Beispiel arbeitet in dem Viertel, in dem das Haus platziert ist. Auch Geflüchtete könnten eine Community sein, auch alte Menschen oder Kinder. Es kann aber auch eine Interessengemeinschaft sein, die sich für ein bestimmtes Ziel einsetzt.
nmz: Ihre Professur heißt nun „Musik in der sozialen Arbeit / Community Music“. Wo sind die Schnittmengen, wo die Trennlinien zu jenen Feldern, in denen es das, was nun auch hier CM genannt wird, in vielen Kontexten schon gab?
Bánffy-Hall: Damit habe ich mich im Rahmen meiner Doktorarbeit lange beschäftigt… Schnittmengen der CM gibt es mit der sozialen Arbeit, mit Feldern der Musikpädagogik und der Musikvermittlung, aber auch mit der Musiktherapie. Außerdem gibt es in Deutschland noch den ganzen Bereich des Amateurmusizierens und der Volksmusik, in den der Ansatz der CM auch mit hineinspielen kann. Community Music findet also in Feldern statt, die wir schon haben, gleichzeitig ist aber nicht alles, was zum Beispiel in der Musikvermittlung passiert, auch Community, Music. Es gab in Deutschland also kein Feld, das Community Music direkt spiegelte, und diese Lücke erklärt mitunter, warum das Feld in den letzten 10 Jahren so gewachsen ist.
nmz: Könnten Sie uns ein Beispiel für ein konkretes CM-Projekt geben?
Bánffy-Hall: Kürzlich war ich an einem Projekt in München beteiligt, da ging es um das Musikmachen im öffentlichen Raum und darum, wie Nachbarschaften, bei denen nicht immer die besten Beziehungen herrschen, zusammengebracht werden können. Da wurde zum Beispiel auf einer Wiese zwischen einem Haus mit Sozialwohnungen, einer neuen Unterkunft für Geflüchtete, weiteren Mietshäusern und einem Kindertageszentrum jede Woche Musik gemacht. Ganz viele, die nie das Gebäude einer Musikinstitution betreten hätten, sind da einfach stehen geblieben und waren dann mit Freude dabei. Das zunächst für ein halbes Jahr angesetzte Projekt soll jetzt weiterlaufen, weil da so viel passiert ist zwischen den Menschen, die dort leben.
nmz: Damit ein solches Angebot funktioniert, muss also eine gewisse Offenheit signalisiert werden?
Bánffy-Hall: Es geht um das Prinzip der Gastfreundschaft und der freien Zugänglichkeit: finanziell, sozial, örtlich, musikalisch. Letzteres heißt aber nicht, dass es egal ist, wie es klingt, denn die Leute wollen Freude haben und wollen auch, dass es für sie gut klingt. Wichtig ist außerdem, dass es nicht immer eine bedingungslose Offenheit gibt, dass also nicht immer jeder mitmachen kann. Wir streben an, offen und gastfreundlich, freundschaftlich und inklusiv zu sein, aber wenn wir in einer Woche einen Auftritt haben, kann man auch sagen: Heute kann niemand einfach so dazukommen, denn wir proben. Es kann auch sein, dass ein Raum für eine Gruppe geschaffen werden soll, die unter sich sein will. Dann ist es auch in Ordnung.
nmz: Sie sprechen Aufführungen an, sind CM-Projekte also nicht grundsätzlich ergebnisoffen?
Bánffy-Hall: So ist es, Ergebnisoffenheit ist keine pauschale Regel. Entscheidend ist, dass es zunächst einmal um die Teilnehmenden und die Menschen geht. Das heißt, wenn diese eine Aufführung wollen, dann gibt es auch eine Aufführung, und wenn sie entscheiden, in dieser oder jener Musikform zu arbeiten, dann wird das auch so gemacht. Es geht also immer um die Community und die Menschen als Musiker*innen und erst nachgerückt um das Ziel einer Institution oder von Menschen von außen.
nmz: Sie haben auch das Community Music Netzwerk initiiert. Warum haben Sie sich nicht einfach dem Netzwerk Junge Ohren angeschlossen, das ja seinen Radius inzwischen auch über das ursprüngliche Kernthema Musikvermittlung hinaus erweitert hat?
Bánffy-Hall: Das Ganze ist zunächst 2013 lokal in München aus der Aktionsforschungsgruppe entstanden, die ich anfangs erwähnt habe. Das hat sich dann ganz natürlich ausgeweitet, weil zu den Treffen Menschen aus ganz Deutschland kamen, erst recht virtuell während der Pandemie. Als die jahrelange Förderung durch das Kulturreferat München und den Bezirk Oberbayern auslief, war klar, dass ein Verein oder ähnliches gegründet werden musste, denn der Bedarf war weiter da. Das war aber nie eine Entscheidung gegen das Netzwerk Junge Ohren und ich denke auch, dass deren Kerngeschäft schon ein anderes ist und beide Netzwerke wichtig sind.
nmz: Womit wir noch einmal bei den Schnittmengen wären…
Bánffy-Hall: Wichtig zu bedenken ist dabei, dass aus internationaler Perspektive Community Music schon lange Teil von „Music Education“ ist. In der International Society of Music Education (ISME) gibt es seit 1982 eine Subkommission für Community Music und Lee Higgins, einer der wichtigsten Autoren in dem Feld, war von 2016 bis 2018 Präsident der ISME. Die deutsche Musikpädagogik hat sich aber ein wenig anders entwickelt und die CM findet neben und in den Feldern Instrumentalpädagogik, Elementare Musikpädagogik, Musikgeragogik immer mehr ihren Platz. In der Community Music geht es eben um soziale ebenso wie um musikalische Ziele. In der sozialen Arbeit ist Musik ein Mittel für den sozialen Prozess. In der Therapie ist es ein Mittel für den therapeutischen Prozess mit Zielen, die medizinisch verordnet sind. Community Musicians sind in der Regel keine Therapeut*innen, sie kommen eher aus Bereichen wie der Musik, der Musikpädagogik oder der Sozialpädagogik. Es muss auch ein Bewusstsein dafür vorhanden sein, wo die Grenzen der eigenen Kompetenz liegen und wo eine Person vom Fach notwendig ist. Das primäre Ziel von Instrumentalpädagog*innen wiederum ist es, das Handwerk und die Kompetenz zum Spielen eines Instruments zu unterrichten. In der Community Music geht es um viel mehr als das.
nmz: Um einen gesellschaftlichen Auftrag?
Bánffy-Hall: Ja, hier kommt der Begriff der Intervention ins Spiel. Interventionistische Praxis ist eine Form der Community Musik, die aus dem Großbritannien der 1970er Jahre kommt. Sie beabsichtigt etwas zu verändern, zu bewegen, existierende Machtverhältnisse infrage zu stellen. Dazu kann es gehören, musikalische Praxen zu unterstützen oder wieder einzuführen, die ausgestorben oder unterdrückt waren. Es kann darum gehen, Menschen oder Communities, die wenig Stimme haben, mehr Kraft zu geben, das aber eben immer mit dieser Community, im Gespräch mit den Menschen, nicht mit einem quasi missionarischen Eifer von außen.
nmz: Welche Möglichkeiten gibt es derzeit, sich in diesem Bereich weiterzubilden oder CM direkt zu studieren?
Bánffy-Hall: Zunächst einmal gibt es den Masterstudiengang „Inklusive Musikpädagogik/Community Music“ in Eichstätt. An der Musikhochschule in Lübeck wird eine Weiterbildung „Musik in der Sozialen Arbeit/Community Music“ angeboten. Das Community Music Netzwerk bietet seit 2015 Workshops und Vernetzung für Community Musicians in Deutschland an. Hier in Düsseldorf planen wir zur Zeit ein Community Music Zertifikat als Kooperation von Hochschule Düsseldorf, Robert Schumann Hochschule und Landesmusikakademie NRW, das im Herbst 2023 starten soll. 2021 habe ich für „Diskussion Musikpädagogik“ eine Umfrage mit relativ hoher Rücklaufquote durchgeführt. Dabei zeichnete sich ab, dass sich das Angebot an Seminaren in Deutschland seit 2012 stetig erweitert hat. Das Ganze wächst und auch die Neu-Denomination meiner Professur ist ja ein interessanter Schritt, denn es ist die erste in Deutschland, die die CM im Namen hat. Wir sind also in einer spannenden Phase im Moment und es ist hochinteressant, diese Entwicklung zu beobachten
nmz: Wie wird das geplante Zertifikat in Düsseldorf aussehen?
Bánffy-Hall: Das Besondere wird sein, dass Studierende der sozialen Arbeit gemeinsam mit Studierenden einer Musikhochschule und Akteur*innen in diesem Feld lernen und dann nach dem dreisemestrigen berufsbegleitenden Lehrgang ein Zertifikat in der Community Musik erlangen. Ich halte diese Öffnung für sehr wertvoll, damit die jungen Menschen schon im Studium merken, dass es da vielleicht auch noch andere Berufsfelder gibt. Im Kurs wird es um Workshop-Praxis, musikalische Ansätze der Community Music, Community Music als künstlerische Praxis und Theorien der Community Music gehen, mit einem abschließenden eigenen Projekt.
nmz: Was würden Sie sich für die kommenden Jahre in Sachen CM wünschen?
Bánffy-Hall: Ich würde mir mehr Förderung für die Menschen wünschen, die in diesem Feld aktiv sein wollen. Vieles läuft freiberuflich und hier muss es eine gerechte Bezahlung geben. Es steht ja außer Frage, dass diese Arbeit sehr viel dazu beitragen kann, mit den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen umzugehen. Wünschenswert wäre auch eine weitere Öffnung der Institutionen und eine Stärkung der Ausbildung in diesem Bereich in künstlerischen ebenso wie in sozialen Feldern. Das wäre eine große Bereicherung!