Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention – seit 2009 geltendes Recht in der Bundesrepublik – spricht nicht nur von gleichberechtigter und gemeinsamer Beschulung von Kindern mit Behinderung, sondern auch von Maßnahmen zur Ausbildung derjenigen, die in pädagogischen Kontexten arbeiten: „Um zur Verwirklichung dieses Rechts beizutragen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen zur Einstellung von Lehrkräften, einschließlich solcher mit Behinderungen, die in Gebärdensprache oder Brailleschrift ausgebildet sind, und zur Schulung von Fachkräften sowie Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen auf allen Ebenen des Bildungswesens. Diese Schulung schließt die Schärfung des Bewusstseins für Behinderungen und die Verwendung geeigneter ergänzender und alternativer Formen, Mittel und Formate der Kommunikation sowie pädagogische Verfahren und Materialien zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen ein.“ (Art. 24 Abs. 2.4)
Der Begriff Inklusion im Kontext Schule wird meist mit „Behinderung“ assoziiert. Dies ist verständlich, denn es war ja gerade das oben zitierte „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“, das in der Bundesrepublik die Frage der gemeinsamen Beschulung aller Kinder verbindlich auf den Weg gebracht hat. Tatsächlich meint Inklusion aber mehr, nämlich die grundsätzliche Akzeptanz der Verschiedenheit der Kinder, bezogen unter anderem auf Herkunftskulturen und Lernbedürfnisse, Geschlecht sowie auf soziale und ökonomische Voraussetzungen. Inklusion in der Schule ist der Abschied von der Idee homogener Lerngruppen und der Aufbruch hin zu individueller Förderung, die den jeweiligen Bedürfnissen der Kinder gerecht wird. Ein neues Verständnis von pädagogischer Professionalität, das insbesondere auch auf Teamarbeit der Kolleginnen und Kollegen setzt (Friedrich 2014).
Die Umsetzung der UN-BRK fordert vom Lehrerberuf und von der Lehrerausbildung einen Paradigmenwechsel: Alle müssen sich mit der Besonderheit oder besser mit der Verschiedenheit aller befassen. Eine „besondere Pädagogik“ bleibt nicht mehr denjenigen vorbehalten, die sich in Ausbildung und Beruf auf Heil-, Sonder- oder Förderpädagogik spezialisieren. Jede Lehrerin, jeder Lehrer, auch jede Musiklehrerin und jeder Musiklehrer wird als Folge der schulischen Inklusionspolitik im Laufe des beruflichen Lebens mit Fragen der Inklusion zu tun haben. Eine Ausbildungsstätte mit dem Anspruch, auf die pädagogische und institutionelle Wirklichkeit vorzubereiten, muss sich in der Konsequenz in Forschung und Lehre mit dem Thema Inklusion befassen.
Seit Dezember 2012 gilt die Vorgabe der KMK, dass in der Ausbildung für alle Lehrämter pädagogische und didaktische Qualifikationen in den Themenbereichen Umgang mit Heterogenität und Inklusion sowie Grundlagen der Förderdiagnostik erworben werden müssen. Gefragt sind hier die Grundlagenstudien in den Erziehungswissenschaften – gefragt sind aber ebenso die Fachdidaktiken. Die Deutsche UNESCO-Kommission stützt die KMK in der jüngst veröffentlichen „Bonner Erklärung zur inklusiven Bildung in Deutschland“, wenn sie fordert „inklusive Bildung als Leitidee in der Aus-, Fort- und Weiterbildung aller pädagogischen Berufe einschließlich aller Lehrämter und der entsprechenden Fachdidaktik zu verankern und mit Pflichtanteilen auszugestalten sowie auf ein verändertes Professionalitätsverständnis der Fachkräfte in der Inklusion hinzuwirken, das auf Vernetzung, Austausch und Reflexion sowie Einbindung externer Kompetenzen setzt.“ (http://www.unesco.de/gipfel_inklusion_erklaerung.html)
In der Bundesrepublik ist die Ausbildung der Musiklehrerinnen und Musiklehrer Sache von Hochschulen für Musik, aber auch Sache einiger Pädagogischer Hochschulen und Universitäten. Für „Behinderte“ fühlten sich die Hochschulen für Musik in den vergangenen Jahrzehnten wenn überhaupt, dann eher im Kontext musiktherapeutischer Ausbildungen zuständig.
Das Unterrichtsfach Musik im Kontext des Lehramts Sonderpädagogik konnte und kann an der einen oder anderen Institution studiert werden – beispielsweise in Hannover, Köln oder Dortmund –, unterliegt aber den Aufnahmebedingungen für das „allgemeine“ Lehramt. Die meist doppelte Einstiegshürde – Aufnahmeprüfung Musik und NC für das Lehramt Sonderpädagogik – führte und führt dazu, dass das Unterrichtsfach Musik/Sonderpädagogik kaum studiert wird. Die Folge: Der Mangel an Fachlehrern Musik im Lehramt Sonderpädagogik ist seit Jahrzehnten wesentlich größer als in allen anderen Lehrämtern.
Auf die Weiterentwicklung des Schulsystems in Richtung Inklusion muss die Ausbildung im Fach Musik für alle Lehrämter reagieren: Die Antworten auf die neun W-Fragen der Musikdidaktik nach Jank (2009, 16), allen voran die drei Hauptfragen „Wer lernt“, „Wie wird gelernt“ und „Was wird gelernt“, müssen neu justiert werden. Im Rahmen dieser Neu- oder auch Feinjustierung ist ein Blick in die Praxis hilfreich, denn die Praxis in inklusiven Klassen fordert und fördert die Kreativität gerade auch der Lehrenden.
Musik findet statt
Musik findet statt – an Förderschulen, in inklusiven Klassen, in inklusiven Schulen, in gemeinsamen Projekten von Förder- und Regelschulen, in Comenius-Projekten im Rahmen von internationalem Austausch. Dass musikalische Qualität und Kreativität überall stattfinden, zeigt die zunehmende Anzahl der Auszeichnungen (u. a. durch „Kinder zum Olymp“ und den Förderpreis InTakt) von musikalischen Projekten, in denen Gruppen und Kinder aus Förderschulen mitwirken. Der zunehmende Praxisbezug von Lehramtsstudiengängen, wie das Praxissemester im Masterstudiengang aller Lehrämter in NRW bringt die Studierenden heute unweigerlich in Klassen, in denen noch vor zehn Jahren kein Kind mit Behinderung zu finden gewesen wäre. Nicht mehr alle Kinder mit Sehbeeinträchtigung besuchen eine Förderschule Sehen, nicht mehr alle Kinder mit körperlicher Beeinträchtigung die Förderschule Körperlich-motorische Entwicklung. Studierende des Faches Musik für das Lehramt Gymnasium sehen sich plötzlich einem gehörlosen Schüler oder einer blinden Schülerin gegenüber – was tun? Am Schwierigsten ist im Übrigen der Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit sogenanntem herausfordernden Verhalten – hier ist unabhängig von der Frage „Behinderung“ die hohe Kunst der Pädagogik gefragt. Die betreuende (Musik-)Hochschule sollte jedenfalls Antworten auf Fragen der Studierenden haben, die sich aus der Wirklichkeit eines inklusiven Schulsystems ergeben. Und sie sollte letztlich nicht nur „defensiv“ auf die Wirklichkeit reagieren, sondern mit Konzepten und Ideen in Forschung und Lehre kreativ vorangehen.
Musik und Inklusion in der Lehrerausbildung
Inklusion kann – obwohl sie Gesetz ist – nicht verordnet werden. Inklusion braucht Menschen, die sie trotz aller Schwierigkeiten gestalten wollen. Solche Menschen gibt es (fast) überall – an Schulen, im Seminarbetrieb der zweiten Ausbildungsphase, unter Fachleiterinnen und Fachleitern und an Hochschulen. Der Förderpreis InTakt der miriam-stiftung zeichnet seit mehr als zehn Jahren Ensembles, Pädagoginnen und Pädagogen aus, die musikalisch und pädagogisch anspruchsvolle inklusive Projekte entwickeln und durchführen (www.miriam-stiftung.de/foerderpreis). Birgit Jank, Inhaberin des Lehrstuhls für Musikpädagogik und Musikdidaktik an der Universität Potsdam, ist eine der Preisträgerinnen. Sie unterstützt seit Jahren Studierende, die sich der Thematik Inklusion unter den verschiedensten Gesichtspunkten nähern, sie unterstützt inklusive Projekte und das Abfassen von Abschlussarbeiten mit „besonderen“ Themen. Mit der Tagung „Musik in sozialen Feldern und Inklusionskontexten“ im Mai 2013 ist sie eine der Vorreiterinnen der Inklusion in der akademischen Lehrerausbildung. Ganz alleine steht sie allerdings nicht in der Landschaft: Die GMP hat bereits 2011 an der EFH Bochum eine Tagung „Soziale Inklusion als künstlerische und musikpädagogische Herausforderung“ veranstaltet; der Tagungsband ist eine Dokumentation inklusiven musikpädagogischen Denkens (Greuel, Schilling-Sandvoß 2012).
Es gibt allerdings mehr und auch ältere „Spuren“ inklusiven Denkens in diesem Feld. Drei Lehrstühle in Reutlingen (E. Braun), Köln (W. Piel) und Dortmund (I. Merkt), in der Sonderpädagogik bzw. Rehabilitationspädagogik verortet, standen jahrzehntelang bundesweit für die Thematik „Musik und Menschen mit Behinderung“ – verstanden als Förderung des Einzelnen und Teilhabe aller an der ganzen Bandbreite der Musikkultur. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Lehrstühle waren mit Schwerpunkten im schulischen und auch im außerschulischen Bereich unterschiedlich gesetzt. Dass derzeit keiner dieser Lehrstühle hochschulpolitisch offensiv mit der Stellenbeschreibung „Musik und Inklusion“ ausgeschrieben und wiederbesetzt zu werden scheint, ist angesichts der aktuellen Inklusionsthematik ein Treppenwitz der Geschichte. Nun, Dortmund hat immerhin in der Ausschreibung einer W3- Professur Musikdidaktik für die Lehrerbildung einen Schwerpunkt Inklusion verlangt. Auch anderswo gibt es Inklusionsspuren. Paderborn hat derzeit eine W2-Professur „Musikdidaktik mit besonderer Berücksichtigung von Inklusion“ ausgeschrieben, in Wuppertal wird eine Akademische Ratstelle für Musikpädagogik mit dem Schwerpunkt Inklusion besetzt werden, an der Musikhochschule Lübeck ist zur Implementierung und Evaluierung des Projektes „Inklusion in der Musiklehrerausbildung“ eine halbe Stelle für zunächst zwei Jahre vorgesehen.
Mosaik Musik und Inklusion
Es muss einmal gesagt sein: Die Ausbildungsstätten für Musikpädagogik sind nur ansatzweise Avantgarde in Sachen Inklusion. Dabei wäre Inklusion gar nicht so schwer – ist sie in der Musik ohnehin immanent. Viele musikalischen Aktivitäten lassen ein Mitmachen in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden zu, viele Musikstile ebenfalls. Alle Bereiche von Musik und Bewegung bieten sich geradezu an, natürlich auch Bodypercussion. Wenn die UdK Berlin einen Bereich „Singen ohne Noten“ anbietet, schlägt das Inklusionsherz höher. Die Hindernisse für Inklusion liegen nicht in der Musik selbst. Sie liegen in den Köpfen der Betrachter. Die Tatsache, dass sich die Musikdidaktik in der Breite – noch – so schwer tut mit der Inklusion, ist unter anderem den Exklusionsprinzipien des separierenden Schulsystems geschuldet. Es gab und gibt einfach zu wenig Situationen, in denen musikpädagogische Erfahrungen gemacht, Didaktik-Konzepte diskutiert, probiert, verworfen und neu gestaltet werden können. Vereinzelt wird begonnen. Das Kölner Institut für musikpädagogische Forschung hat am 7.11.2014 eine Tagung zum Thema Musikpädagogik und Inklusion/Integration durchgeführt (siehe auch Seite 6). Das Programm verweist in der Zusammenarbeit mit den Fachkolleginnen aus der Universität zu Köln auf zukünftige Vernetzungen zwischen Förderpädagogik und Musikdidaktik. An der TU Dortmund gibt es eine AG Musik und Inklusion. Wie wäre es, wenn sich der neu gegründete BMU zusammen mit der Rektorenkonferenz der Musikhochschulen politisch, musikalisch, offensiv und gemeinsam mit dem Themenfeld Inklusion auseinandersetzen würden?
Literatur
• Friedrich, Herma (2014): „Ich kann mich nicht dreiteilen“. Anforderungen an Musiklehrer in einer inklusiven Lernumgebung. In: Musikforum. Musikleben im Diskurs. H2 2014, S. 46-49
• Greuel, Thomas, Katharina Schilling-Sandvoß (Hg.) (2012): Soziale Inklusion als künstlerische und musikpädagogische Herausforderung. Musik im Diskurs Bd. 25 Aachen: Shaker
• Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Bundesgesetzblatt Jahrgang 2008 Teil II Nr. 35, Bonn, 31. Dezember 2008, http://www.un.org/depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf (09.11.2014)
• Jank, Werner (Hg.) (2009): Musikdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen Scriptor, S. 16