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Text und Foto: Pat Christ

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Im Spannungsfeld von Unterricht und Kunst

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Das Projekt „Zeitzeugen der Musikpädagogik“ macht sich auf Spurensuche
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Mit Büchern über Musikpädagogik könnte man jede Menge Buchregale füllen. „Doch irgendwann wurde uns klar, dass das, was wir aus Büchern erfahren, nicht reicht“, sagt Bernd Clausen, Professor für Musikpädagogik an der Uni Siegen. 2018 lud er zusammen mit seinen Kollegen Stefan Hörmann aus Bamberg und Alexander Cvetko aus Bremen emeritierte Musikpädagogen zu einer Zeitzeugengesprächsrunde nach Würzburg ein. Inzwischen wurden weitere Zeitzeugen befragt. Ergänzende Gespräche stehen noch aus.

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Durch die Gespräche im Projekt „Zeitzeugen der Musikpädagogik“ erhellt und verdichtet sich nach und nach die Geschichte der musikpädagogischen Wissenschaft ab den 1960er Jahren. Was trieb die Entwicklung voran? Welche Hürden waren zu überwinden? An welchen Leitbildern orientierte man sich einst? Inwiefern und an welchen Stellen musste Überzeugungsarbeit für Musikpädagogik als Wissenschaft geleistet werden? Solche Fragen interessierten das Forschertrio, so Bernd Clausen: „Durch die Gespräche wurde uns klar, wo wir herkommen, wie sich alles ergeben hat und wo wir jetzt stehen.“

In der Würzburger Akademie Frankenwarte berichteten die Zeitzeugen, wie sich das Curriculum und wie sich die Institutionen entwickelt haben. In den Gesprächen ging es um das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Musikpädagogik und anwendungsbezogener Musikdidaktik. Es ging um das Spannungsfeld zwischen Musikunterricht und Kunst. Um das, was sich als roter Faden bis heute durch das Fach zieht. Und um das, was sich gewandelt hat. Hin und wieder spielte auch die jeweilige politische Situation hinein, so Bernd Clausen: „Ein Kollege erzählte zum Beispiel von den Studentenunruhen in Hamburg 1968.“

Durch die Zeitzeugengespräche wurde dem Forscherteam bewusst, dass es sich bei manchem, was dieser Tage als topaktuell propagiert wird, quasi um einen „Etikettenschwindel“ handelt. Etwa beim Thema Inklusion in der Musikpädagogik. „Doch sonderpädagogische Themen gibt es in unserem Fach bereits seit Anfang der siebziger Jahre“, sagt Bernd Clausen. Ebenfalls seit etlichen Jahren existieren aufbauender Musikunterricht sowie Klassenmusizieren.

Hin und wieder kam in den Gesprächen Frust über ungünstige sys­temische Gegebenheiten auf. Nicht zuletzt dies zieht sich als roter Faden durch die Geschichte des Fachs. So ist Musiklehrermangel ein alles andere als neues Problem. Neu ist es außerdem nicht, dass Musikpädagogen auf der Hut sein müssen. Dass dem Fach in utilitaristischen Zeiten immer wieder eine Legitimationskrise droht, stellt ein schwelendes Grundproblem dar.

Mit Fragen der Legitimierung als Fachdisziplin hatte, so ein Resultat der Zeitzeugengespräche, Musikpädagogik als Wissenschaft vor allem in den 1960er und 1970er Jahren zu kämpfen. An den Universitäten, berichteten die emeritierten Kollegen, habe man nicht nur um Gelder für die künstlerischen Fächer kämpfen müssen, sondern, so Bernd Clausen zusammenfassend, „um die Akzeptanz der Musikpädagogik im Verbund mit anderen wissenschaftlichen Fächern“. 

Ganz aktuell haben Musikpädagogen damit zu kämpfen, dass Bayerns Kultusministerin Anna Stolz die kreativen Fächer zusammenstreichen will. Kunst, Werken und Musik sollen in den Grundschulen des Freistaats zu Gunsten der als essenzieller bewerteten Fächer Mathematik und Deutsch stundenmäßig gekürzt werden. Solche Widrigkeiten, so der ehemalige Präsident der Würzburger Musikhochschule, führten dazu, dass ältere Kollegen nach ihrer Emeritierung häufig nur noch Musik machen wollten: „und nichts mehr mit Musikpädagogik.“

Nachholbedarf Ost-West

Vom Kampf um Forschungsgelder berichtet Zeitzeuge Rudolf-Dieter Kraemer. Er sah Anfang der 1990er Jahren einen großen Nachholbedarf, was die musikpädagogische Ost-West-Debatte betraf. „Am 11. 4. 1991 bat ich vergeblich um einen Druckkostenzuschuss für eine Textdokumentation zur musikpädagogischen Forschung in der DDR“, erzählte er. Nach seiner Ansicht würde die Entwicklung des Fachs davon abhängen, „wie sich die über Jahrzehnte getrennten Disziplinen weiterentwickeln“. Diese Meinung wurde weithin nicht geteilt. Bei Tagungen erlebte Rudolf-Dieter Kraemer Kollegen, „die ihre Lebensleistungen in der Zukunft einer gemeinsamen Wissenschaftsgemeinde in Gefahr sahen“. Ein Kollege schrieb: „Ihre DDR-Anthologie hat viel Staub, aber auch Dreck aufgewirbelt.“ 

Zeitzeuge Thomas Ott war Professor für Musikpädagogik an der Hochschule der Künste in Berlin sowie an der Universität zu Köln. Die zweite Hälfte der 1960er Jahre erlebte er als Student an der Hamburger Musikhochschule. Damals waren angehenden Gymnasiallehrern nicht einmal rudimentäre Kenntnisse in Musikpädagogik vermittelt worden. Musikpädagogik als Wissenschaft, erinnert er sich, sei im Studienplan nicht vorgesehen gewesen. Im Methodenunterricht hätten verdiente Musiklehrer aus ihrer Praxis erzählt. In einer „Seminarübungsschule“ habe jeder einmal mit einer Gruppe Fünftklässler ein Lied einüben dürfen: „Im Fach Pädagogik lasen wir mit einem abgesandten Dozenten der Universität Texte von Spranger und Nohl.“

Unter dem Dach der Universität

Thomas Ott konstatiert rückblickend ein „Schneckentempo der Entwicklung zu mehr Wissenschaftlichkeit“. Die Fakultät sei nichts anderes gewesen „als die ex-PH, nun schon seit langem, wenn auch binnenstrukturell unverändert, unter dem Dach der Universität“, berichtete er. Es habe etliche Berufungen gegeben: „Und die folgten natürlich anderen Kriterien als denen der alten PH.“

Nach den Erinnerungen von Eckhard Nolte hatte sich die Musikpädagogik in den 1970er Jahren musikdidaktisch außerordentlich differenziert und als Forschungsfeld etablieren und konsolidieren können. Belegbar sei dies durch die seither entstandenen Dissertationen und Habilitationsschriften sowie durch inzwischen vielfältige Forschungsbereiche. Eines allerdings wäre dem Fach aus seiner Sicht sehr zu wünschen: „Seitdem die Musikpädagogik forciert Forschung betreibt, wird diese, wie es scheint, bis heute noch gelegentlich als Statusbedrohung der Musikdidaktik empfunden.“ Dies sei „völlig ungerechtfertigt“.

Als Allrounder ausgebildet

Mit Günther Noll hat das Trio einen Zeitzeugen gewinnen können, der im August 97 Jahre alt geworden ist. 1976 wurde Noll Direktor des Instituts für Musikalische Volkskunde an der Pädagogischen Hochschule Rheinland. Ab 1980 lehrte er an der Uni Düsseldorf. Günther Noll erinnert sich, dass an den Pädagogischen Hochschulen Nord­rhein-Westfalens noch in den 1950er Jahren „Allround-Lehrer“ ausgebildet wurden. „Jeder Studierende hatte eine sehr geringe Pflichtstundenzahl Musik zu belegen“, sagt er. Erst mit der Umwandlung der Pädagogischen Hochschulen in Wissenschaftliche Hochschulen zu Beginn der 1960er Jahre habe musikpädagogische Forschung in einer Ausbildung zum Fachlehrer für Musik ihren gesicherten Ort.

Zu den befragten Zeitzeugen gehören außerdem Hans Bäßler, Niels Knolle sowie der 2021 verstorbene Musikpädagoge Hermann-Josef Kaiser. Hans Bäßler begann 1968, in Hamburg Schulmusik zu studieren. Von 1994 bis zu seiner Emeritierung 2014 war er Professor für Musikpädagogik an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Niels Knolle war von 1979 bis 1996 Akademischer Rat an der Universität Oldenburg. Ab 1996 war er Professor für Musikpädagogik in Magdeburg. „Durch die Zeitzeugengespräche kamen Aspekte ans Licht, die bisher in der musikpädagogischen Forschung kaum im Blick gewesen sind“, so Bernd Clausen. Interessant ist für ihn zum Beispiel, wie es zur Gründung der Würzburger Musikhochschule im Jahr 1973 kam. Daran hatte die Musikpädagogik maßgeblichen Anteil gehabt. Letztes Jahr veröffentlichte Clausen ein Buch über die institutionelle Geschichte der Musikhochschule Würzburg mit Blick auf das Bayerische Staatskonservatorium.

Der Schüler im Zentrum

Eine Erkenntnis aus den Zeitzeugengesprächen, die beim ersten Hören banal klingt, für Bernd Clausen jedoch elementar ist, lautet: Im Mittelpunkt der Musikpädagogik steht seit langem der Schüler. „Und eben nicht Beethovens Neunte, wie das noch in den fünfziger Jahren der Fall war“, so der Siegener Dozent. Diese pädagogische Grundhaltung sei ab den sechziger Jahren die Conditio sine qua non im Musikunterricht gewesen: „Was mir bis dahin nie so wirklich klar gewesen war.“

Auffällig ist, dass es bisher an weiblichen Zeitzeugen fehlt. „Das war bei uns auch ein Riesenthema“, sagt Bernd Clausen. Bis in die Siebzigerjahre hinein, dies wurde aus den Zeitzeugengesprächen deutlich, sind Frauen in der musikpädagogischen Wissenschaft kaum ernst genommen worden. Nur wenige schafften es, sich durchzusetzen. Dazu gehörte Sigrid Abel-Struth, die im Juli dieses Jahres ihren 100. Geburtstag hätte feiern können. Anfang 1987 starb sie. Ab 1973 war die Begründerin des ersten Magisterstudiengangs für Musikpädagogik Professorin an der Uni in Frankfurt am Main.

Inzwischen hat das Trio vom Zeitzeugen-Projekt mehrere Aufsätze veröffentlicht. Noch stehen einige Abschriften aus und weitere Zeitzeugengespräche an. Was bisher transkribiert wurde, soll qualitativ ausgewertet werden. Am Ende wird eine Dokumentation entstehen. Wann man genau mit der Dokumentation an die Öffentlichkeit gehen kann, steht laut Bernd Clausen noch nicht fest: „Spätestens im Laufe des Jahres 2025.“ 

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