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Grund- und Hauptschüler gestalten „Pulcinella“ an der Oper Wuppertal mit. Foto: Jens Grossmann
Grund- und Hauptschüler gestalten „Pulcinella“ an der Oper Wuppertal mit. Foto: Jens Grossmann
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Individuelle Spuren einer Initialzündung

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Strawinskys „Pulcinella“ als kooperatives Education-Projekt in Wuppertal
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Das war ein mächtig buntes Treiben auf der großen Bühne des Wuppertaler Opernhauses: rund 140 Kinder füllten sie Anfang März mit Leben, als es darum ging, sich gemeinsam auf den Weg zu machen, um den Liebesabenteuern von Pulcinella, diesem lustigen Gesellen, nachzuforschen und mitzuerleben.

Daran beteiligt waren 140 Kinder aus drei Wuppertaler Grundschulen und einer Hauptschule,  die sich zuvor über Monate hinweg mit dieser sympathischen Commedia dell´arte-Figur beschäftigt hatten, inspiriert von Igor Strawinskys Ballettmusik. Konzipiert war das Ganze als ein Education-Projekt mit vielen Partnern vor Ort – und quasi einer „Mutter“ als leistungsstarkem Motor: Gunda Gottschalk. Sie ist in Wuppertal zu Hause und arbeitet von dort aus als Geigerin, gerne auch im Bereich experimenteller Musik. Und eben mit Kindern. Ein erstes, sehr erfolgreiches Projekt hat sie in Frankfurt/Oder mitbetreut, in dem es um Gustav Holsts „Die Planeten“ ging. „Irgendwann habe ich mir dann gesagt: Die notwendige Infrastruktur hast Du auch bei Dir in Deinem Umfeld in Wuppertal. Vielleicht sogar noch etwas besser …“

Sie meint damit ein Opernhaus, ein großes Sinfonieorchester, Tanztheater – dazu bereits bestehende Initiativen, die schon Education-Arbeit leisten und damit Erfahrung haben, und nicht zuletzt eine ausgeprägte Freie Kulturszene mit motivierten Künstlerinnen und Künstlern, dazu viele, viele junge Menschen in den Schulen. Für die existiert bereits seit Anfang 2011 das von einer Stiftung getragene Programm „Kultur am Vormittag“, kurz KuVo. Dieses bietet inzwischen in 71 Klassen wöchentlich eine in den „ganz normalen“ Stundenplan integrierte Doppelstunde, in der es um Kreativität geht, um das Entdecken eigener künstlerischer oder ästhetischer Ausdrucksformen, um das Lernen von sozialem Verhalten – darum, Lernen nicht als lästig, sondern als Lust zu erfahren. Ganz konkret: Künstlerinnen und Künstler aus unterschiedlichen Sparten, ob Bildende Kunst, Tanz, Musik, Schauspiel, gestalten diese Doppelstunde gemeinsam mit dem schulischen Lehrpersonal. Ergebnisoffen und vor allem: nachhaltig, weil langfris­tig. „Ich begleite eine solche Klasse drei Jahre lang – und kann inhaltlich machen, was ich möchte“, erläutert Gunda Gottschalk.

Da lag es nahe, die „Kultur am Vormittag“ auch für das Pulcinella-Projekt zu nutzen, bei dem das Sinfonieorches­ter Wuppertal unter Chordirektor Markus Baisch für die Live-Musik sorgte. Dabei war es inhaltlich gar nicht das Ziel, das einst von Sergej Diaghilev choreo­grafierte Ballett irgendwie „nachzuspielen“. Vielmehr ging es darum, die Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 9 und 15 Jahren eigene Ideen entwickeln zu lassen im Hinblick auf die Frage, „Wer ist Pulcinella?“, der ja im Grunde als Held, als Mega-Star begriffen werden kann, den alle Welt anhimmelt. Aber wen himmeln die Kids heute an? „Das war zum Teil überraschend“, so Gottschalk, „weil es oft genug die eigene Lehrerin war, oder die Mitschüler rechts oder links auf der Bank im Klassenzimmer.“ Entsprechend sah die Opernbühne aus – und das ganz individuell gestaltete Outfit der jungen Darstellerinnen und Darsteller. Pappkartons wurden in der Vorbereitungsphase bemalt und über die Köpfe gestülpt, Sätze hinausposaunt wie „Liebe ist Adrenalin“ oder „Liebe lohnt sich“. Tief berührend, jene Äußerungen, die auf Bannern zu lesen waren, wie „Ich vermisse dich“ oder „Ich wollte nicht, dass Du stirbst“. Viele individuelle Spuren, die im Arbeitsprozess freigelegt wurden und deshalb nicht unbedingt von allen im Theatersaal verstanden werden konnten, verstanden werden mussten. Schließlich war „Pulcinella“, um es noch einmal zu formulieren, kein in erster Linie zielorientiertes, sondern ein ergebnisoffenes Projekt, bei dem der lange Weg das Ziel war.

Manche bis dahin unentdeckte Talente wurden dabei auch „ausgegraben“. Etwa in der AG von Julie Shanahan, Mitglied im Tanztheater Pina Bausch. Sich fantasievoll bewegen, Stimmungen Ausdruck verleihen zu können ist manchen Schülerinnen und Schülern erst hier, in und mit der Arbeit an „Pulcinella“ aufgefallen und könnte Initialzündung geworden sein, sich damit weiter zu beschäftigen. Überhaupt: solidarisches, soziales Verhalten, das Erleben klassischer Musik, das Betreten eines vermeintlich heiligen Kulturtempels, das eigene freie Singen und Schauspielern – dergleichen war den wenigsten der beteiligten Schülerinnen und Schülern in die Wiege gelegt. Im Gegenteil: die meisten kommen eher aus einem wenig kulturaffinen familiären Umfeld. „Theater, Schauspiel, Tanz – das hat viele unserer Kinder vor Situationen gestellt, die sie überhaupt nicht kannten“, sagt Gunda Gottschalk. Sie mit dem Musik- oder, mehr noch: Kulturvirus zu infizieren, ist aber ganz offensichtlich gelungen. Denn auch nach der Pulcinella-Premiere und den drei darauffolgenden Vorstellungen im Wuppertaler Opernhaus war dieses Projekt Gesprächsthema Nummer Eins bei den Kids. Und dass alle Aufführungen so gut wie ausverkauft waren, spricht Bände: Selbst die Eltern und Verwandten der kleinen Akteure zeigten lebhaftes Interesse und saßen gebannt in eben jenem „Kulturtempel“, den sie bis dahin vielfach noch nie von innen gesehen hatten.

Wuppertal könnte sich zu einem Edu­cation-Leuchtturm in Nordrhein-Westfalen entwickeln. Die Voraussetzungen sind günstig, zumal Berthold Schneider, seit Beginn der Spielzeit 2016/17 Intendant der Wuppertaler Bühnen, sich erfreulicherweise auf die Fahnen geschrieben hat, das Opernhaus zu öffnen, in die Freie Szene zu gehen, das kreative Potenzial der Stadt einzubinden, sich mit den Kulturmachern vor Ort zu vernetzen. Das könnte nicht zuletzt dem Haus einen echten Schub nach vorne geben, den es nach den zurückliegenden Jahren des – mit Verlaub gesagt – künstlerischen Stillstands auch gut gebrauchen kann. Profiteure sind aber zu allererst die Wuppertaler Kinder und Jugendliche.

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