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„Phosphorescenes sonores“ beim Musikfestival Bern. Foto: Philipp Zinniker
„Phosphorescenes sonores“ beim Musikfestival Bern. Foto: Philipp Zinniker
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Irrlichter spuken durchs Programm

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Das Musikfestival Bern als Laboratorium für neue Konzertformate
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Wortlisten laufen vorüber, auf Monitoren, im Sprechen und Singen der „Maulwerker“, ja eigentlich wohl auch in den Instrumentalklängen des Ensembles Proton Bern. Sie stammen aus dem Grimm’schen Wörterbuch und werden hier übersetzt in ein radikales, streng durchgestaltetes Musiktheater. Plötzlich aber verändert sich das Licht. Ein bärtiger Musiker kommt herein, trägt ein Spinett wie Nosferatu seinen Sarg, spricht Unverständlich-Gestammeltes, spielt auf dem Instrument und tritt wieder ab. Ein Spuk fast – und das Musiktheater geht weiter.

So geschah’s etwa nach einem Drittel des neuen Stücks „durst & frucht“ der Schweizer Komponistin Annette Schmucki. Der Auftritt des Genfer Improvisators und Lautpoeten Jacques Demierre gehörte nicht zu ihrem Stück, sondern unterbrach es vielmehr – wie ein Irrlicht, das auf eine falsche Fährte lockte. Und das auf Wunsch des Festivals. Dass eine Komponistin einen solchen Eingriff in ihre Uraufführung duldet, ist an sich schon ungewöhnlich; noch mehr, dass ein Festival ihn fordert – und nicht nur einmal, sondern in jedem Konzert. Es lässt mit solchem Eingriff in ein Werk und mithin in die Werktreue Störung, Verstörung, ja vielleicht sogar Zerstörung zu. Irritierend ist so ein Irrlicht allemal.

„Irrlicht“ nämlich lautete das Motto des Musikfestivals Bern, passend zum neunten Lied aus Schuberts „Winterreise“. Der Zyklus wurde zur Eröffnung in der „komponierten Interpretation“ Hans Zenders aufgeführt – vom Berner Symphonieorchester unter Mario Venzago zusammen mit dem höchst engagierten Tenor Julian Prégardien. Auch dieses Konzert wurde unterbrochen, durch eine die Konzertsituation spielerisch reflektierende Einlage des Performanceduos Jonathan Burrows und Matteo Fargion.

Ähnliches passierte in allen Kon­zer­ten: Einschübe, Unterbrüche, unterschwellige Nebenklänge. Gewiss, nicht jedes Irrlicht überzeugte. Manche waren kaum zu erkennen, andere blieben eher oberflächlich und erzeugten wenig Spannung. Aber man horchte danach jeweils ganz anders hin. So war das Motto ein Gewinn. Und mutig: Gewiss werden Werke heute hin und wieder aufgebrochen, aber insgesamt behandelt der klassische Musikbetrieb – im Gegensatz zum Sprechtheater – sie als sakrosankt. Das Musikfestival Bern, ein Laboratorium geradezu für neue Konzertformate, suchte solch irritierende Verführung, öffnete Türen, ermöglichte vielleicht ein anderes Hinhören und bleibt so auch nachhaltig im Gedächtnis hängen.

2007 fand das Festival erstmals statt, fortan im Zweijahresrhythmus, mit damals schon ungewöhnlichen Themensetzungen. Nun erfolgte eine Neuorientierung, eine Reduktion auf nur fünf Tage und die alljährliche Austragung. In der ersten, auf drei Jahre angelegten Planung erhielt jeder Jahrgang ein Motto: Nach „Irrlicht“ werden „unzeitig“ und „rauschen“ folgen – fürwahr keine gängigen Festivalthemen. Ein vierköpfiges Kuratorium wählt aus Einsendungen aus und erwägt sogleich mit den Experten, wie das Thema vertieft und vermittelt werden kann. Die musikalische Ausrichtung ist breit und nicht auf neue Musik beschränkt. Klassiker finden sich da, eben unterbrochen von solchen „Irrlichtern“ (man darf gespannt sein, wie die nächsten Jahre die Themen eingebracht werden). Die vier Sätze von Schuberts G-Dur-Quartett alterierten mit Interventionen Martin Schüsslers. Der „Pierrot lunaire“ erklang in einer sanften Inszenierung von Leo Hoffmann – die Musiker saßen hinter Jalousien, die sich gelegentlich öffneten. Die Japanerin Ezko Kikoutchi komponierte japanische Geister, sogenannte „Onibi“. „Le Noir de l’étoile“, die von den Rhythmen eines Pulsars gelenkte Komposition Gérard Griseys, wurde von Pascal Viglino als räumliches Rundumerlebnis gestaltet, dabei, wie es der Komponist wünschte, vom Astrophysiker Rudolf von Steiger fachkundig und witzig eingeleitet und ebenfalls von einer Interpolation durch Simon Steen-Andersen gestört. Es waren bewusst ausgewählte, starke und wirkungsmächtige Stücke, die eine solche Konfrontation aushielten.

Wundersam irritierend, auf subaquatisch-traumhafte Weise war das Geläut der mit Fellen und Filzen gedämpften Münsterglocken. Derart präpariert vom Perkussionisten Peter Conradin Zumthor und der Pianistin Vera Kappeler schien es, als tönten die Glocken aus einer im Meer versunkenen Kathedrale heraus. Dass eine Kirchgemeinde nicht um ihre Instrumente und ihre Heiligkeit fürchtet, sondern eine solche Aktion sogar freudig begrüßt, zeugt von der Offenheit der Berner. Und in diesem somnambulen Münster ging spätabends außerdem der Spuk los. Zu Murnaus Stummfilmklassiker „Nosferatu“ hatte der junge Basler Komponist Jannik Giger eine neue Musik komponiert, irisierend und höchst effektvoll, so dass es einem manchmal den Rücken runterschauerte. In einem anderen Filmprojekt improvisierten Musiker live zu Experimentalfilmen von Man Ray, Hans Richter und Marcel Duchamps.

Das Festival leistete sich dazu ein ausladendes Rahmen- und Vermittlungsprogramm – in eindrücklicher Spannbreite. Erstaunlich nur schon, dass neben den heutzutage fast schon obligaten Artists in Residence (hier Burrows and Fargion) auch ein Philosoph assoziiert war, Christian Grüny, der mitdachte, Konzerte ansagte, Künstlergespräche leitete, für Diskussionen zur Verfügung stand und zusammen mit Marion Saxer einen Workshop über „Erwartungen und Suchbewegungen des Hörens“ durchführte. Neue Konzerträume wie die Krypta der Kirche St. Peter und Paul oder aber die Hohlräume in der Lorrainebrücke über der Aare wurden erschlossen. Mit dem Kunst- und Kulturhaus visavis gab’s eine Konzertwerkstatt, bei der Jugendliche an Klängen und Geräuschen tüfteln konnten. Überhaupt dachte man an künftige Generationen. Annette Schmucki und die Musikvermittlerin Irena Müller-Brozovic, die wie Grüny von Anfang an in die Programmation einbezogen wurde, arbeiteten und spielten in Schulklassen mit den Grimm’schen Wortlisten. Zusammen mit dem Verein Zuhören Schweiz fanden diverse Hörspaziergänge für Kinder und Erwachsene statt. Und Radio Bern, genannt RaBe, führte einen Workshop für 12- bis 16-jährige Jungreporter/-innen durch.

Und schließlich konnte das alles über eben diesen Lokalsender in dem eigens eingerichteten Sendegefäss Radio Antenne vermittelt werden – im Sinn einer kulturellen Teilhabe, die ein breites Publikum anspricht. Gesendet aus einem Radiomobil vor dem jeweiligen Konzertort erschien dabei nochmals die ganze Vielfalt vom philosophischen Gespräch bis hin zu kleinen von den Jungreporter/-innen gestalteten Beiträgen, vom Avantgardestück bis zum Popsong. Das heißt auch: Was so weit gedacht war, wurde lokal verankert. Das Festival versteht sich als Plattform für die Berner Szene und erreichte sein Publikum, das die Konzerte rege besuchte und sie warm, ja begeistert aufnahm. Man wohnte nicht einem exklusiven Neue-Musik-Festival bei, sondern einem Fest für die Musik.

Das Musikfestival Bern fand vom 6. bis 10. September 2017 statt (www.musikfestivalbern.ch). Der Musikwissenschaftler und Musikjournalist Thomas Meyer wirkte dieses Jahr als Dramaturg für Radio Antenne beim Musikfestival Bern mit.

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