Seit 2008 gibt es die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Jazz an Schulen in Bayern. Die nmz sprach mit Robert Aichner, dem seit Herbst 2011 amtierenden Vorsitzenden, über die Situation des Jazz an den bayerischen Schulen, die Ziele und Ideen der vom Kultusministerium eingesetzten Arbeitsgemeinschaft und die Möglichkeiten des Jazz als Weg zu mehr Bildung und gesellschaftlicher Verantwortung.
neue musikzeitung: Herr Aichner, neben Ihrem Hauptberuf als Musiklehrer und Leiter der Jazz-Abteilung am Reuchlin-Gymnasium Ingolstadt haben Sie sich mit vielfältigen Aktivitäten dem Jazz verschrieben. Sie spielen Saxophon in der Lehrer Big Band Bayern, sind Vorstandsmitglied im Verein „Jazzfreunde Ingolstadt“ und Mitarbeiter bei den Ingolstädter Jazztagen. Seit der Gründung der LAG Jazz an Schulen in Bayern sind sie Mitglied im Team und nun auch Vorsitzender. Was motiviert Sie, den Jazz an den bayerischen Schulen weiter voranzubringen?
Robert Aichner: Meine verschiedenen Tätigkeiten und Funktionen im Bereich Jazz und die vielen persönlichen Kontakte mit wichtigen Persönlichkeiten des Jazz lassen mir immer deutlicher zwei Anliegen zentral erscheinen: Vernetzung und darauf aufbauend qualitativ hochwertige Weiterbildung für Lehrer wie Schüler. Mein persönliches Ziel als Lehrer und auch als Vorsitzender der LAG ist es, unsere Schülerinnen und Schüler auf ihrem Weg zu musikalisch gebildeten und sozial intelligenten Mitgliedern unserer Gesellschaft zu begleiten.
nmz: Was sind denn im Hinblick darauf genau die Aufgabenbereiche und Ziele der LAG Jazz an Schulen in Bay-ern, für die Sie nun verantwortlich zeichnen?
Aichner: Eine unserer Hauptaufgaben ist die Organisation von Fortbildungen für Lehrkräfte aller Schularten. Hierfür erhalten wir auch vom Ministerium die entsprechenden Mittel. Das LAG-Team trifft sich zweimal im Jahr, um möglichst aktuelle und für unsere Zielgruppe relevante Fortbildungen zu planen, Dozenten auszuwählen und uns gegenseitig auszutauschen. Diese Fortbildungsangebote machen wir den Kolleginnen und Kollegen über das Fortbildungsportal FIBS zugänglich. Dort findet man neben der Anmeldemöglichkeit alle Informationen zu den einzelnen Kursen. Aktuell bieten wir zum Beispiel Fortbildungen zu den Themen „Improvisation“, „Know-how für Big Band Leiter“ oder „Reading Sessions“ an, in denen es vor allem um Literatur für die Arbeit mit den verschiedenen Jazzbesetzungen geht.
Neben den Fortbildungsmöglichkeiten möchten wir den Lehrkräften aber auch Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stellen. Auf unserer Homepage, die in Kürze überarbeitet erscheinen wird, finden sich beispielsweise Literaturlisten für geeignete Arrangements, geplant ist außerdem die Entwicklung von Stundenbildern für den allgemeinen Musikunterricht zum Thema Jazz. Diese werden wir in unserem Team erarbeiten und in einer Fortbildung 2013 vorstellen.
Um die Schulen und Lehrkräfte optimal beraten zu können, ist es auch erforderlich, dass wir mit bestehenden Jazzinstitutionen eng zusammenarbeiten. Damit meine ich vor allem das Landes-Jugendjazzorchester Bay-ern (LJJB), das Bayerische Jazzinstitut in Regensburg (BJI), die Bayerische Landeskoordinierungsstelle Musik (BLKM), die LAG Jazz in Bayern e.V. oder die Lehrer Big Band Bayern. Darüber hinaus wollen wir uns ständig weitervernetzen, zum Beispiel mit Musikschulen oder den Jazzabteilungen der bayerischen Musikhochschulen, hauptsächlich um geeignete Dozentinnen und Dozenten zu finden. Der vom LJJB getragene Wettbewerb „Jugend jazzt“ ist für mich übrigens ein Paradebeispiel für gelungene Synergien: Da er weniger den Charakter eines Konkurrenzkampfes, sondern mehr den eines Fes-tivals mit Begegnungsmöglichkeiten hat, zudem flankiert ist von hochkarätigen Workshops, kann er Schülern und Lehrern gleichermaßen als (Fort-)Bildungsmöglichkeit und Kontaktforum dienen.
nmz: Wie kann man die derzeitige Situation des Jazz an den bayerischen Schulen beschreiben? Welche Möglichkeiten bietet der Lehrplan, welche Bedeutung hat der Jazz in der Schule allgemein und wie sieht es mit der Ausbildung der Lehrkräfte diesbezüglich aus?
Aichner: Obwohl meines Wissens bisher keine offizielle Erhebung zum Jazz an Schulen existiert, bekommen wir durch die vielen Kontakte einen guten Überblick. Ich spüre immer mehr eine positive Aufbruchstimmung. Mittlerweile gibt es zahlreiche hervorragende „Jazz-Stützpunkte“ mit Modellcharakter an bayerischen Schulen, an die man interessierte Kollegen wie auch Schüler verweisen kann. Sicher gibt es auch Schulen, an denen der Jazz keine Rolle spielt, ich denke aber, jede Schule hat ihren speziellen Schwerpunkt, sei es Chor, Percussiongruppe oder Orchester, je nach Kollegium, das dort wirkt. Dazu kommt, dass Bigbands oder Jazzcombos an vielen bayerischen Schulen Veranstaltungen qualitätvoll umrahmen und somit oft ein Vorzeigeensemble darstellen.
Die Lehrpläne sind insgesamt offener im Vergleich zu früher gestaltet und ermöglichen dadurch mehr eigene Schwerpunktsetzungen, mit allen Vor- und Nachteilen. Jazz kann in verschiedenen Jahrgangsstufen im Zusammenhang mit Themen wie „Instrumentalbesetzungen“, „Latin Percussion“ oder bei „Kadenzen“ eine Rolle spielen; explizit findet man Jazz als Schwerpunktthema im Lehrplan der 10. Klasse. Lehrer mit Jazzaffinität können hier aus dem Vollen schöpfen und im Klassenunterricht verschiedene Stile vorstellen oder in Praxisstunden Improvisationmodelle (Blues, Modaler Jazz, Pentatonik) ausprobieren. Bei vielen war der Jazz jedoch im Studium lediglich eine Randerscheinung, sei es wegen mangelnder Angebote an den Hochschulen auch auf Grund von zu wenig Anerkennung des Jazz als Kunstform, sei es aufgrund mangelnden Eigeninteresses, so dass man als Lehrkraft froh ist über vorgefertigte Unterrichtsmaterialien oder Arrangements. In unsere Fortbildungen kommen öfter Lehrkräfte, die kurzfris-tig von ihren Schulen mit dem Aufbau einer Big Band oder Combo beauftragt wurden, denn für viele Schulen werden solche Formationen im Hinblick auf Öffentlichkeitsarbeit immer wichtiger. Sie möchten dann die entsprechenden Kenntnisse und Fähigkeiten im Jazz wie zum Beispiel Improvisation, Arrangieren oder Jazzensembleleitung erwerben.
Wichtig ist mir persönlich, dass an Schulen anspruchsvolle Musik vermittelt wird. Viele Kinder bewegen sich tagtäglich zum Teil stundenlang in der Popkultur; hier kann man natürlich im Unterricht sehr gut ansetzen und die Kinder abholen. Ich denke aber, die Schule sollte bei der geringen Zeit, die dem Musikunterricht zugestanden wird, die Chance nutzen, die Meisterwerke der Klassik und des Jazz auf innovative Art und Weise vorzustellen. Die Schüler sollten wenigstens die wichtigsten Meister des Jazz wie Miles Davis, Count Basie oder Charlie Parker gehört haben, denn mittlerweile stellt der Jazz einen Teil unserer (Hoch-)Kultur dar. Mir ist jedoch klar, dass ebenso wie die Klassik auch der Jazz für Schüler zunächst fremd ist, aber hier bietet sich die wunderbare Chance, die notwendige Fähigkeit zu vermitteln, gegenüber Fremdem offen zu sein. Dabei nehme ich die Kinder in ihren emotionalen Reaktionen auf die Andersartigkeit der Musik durchaus ernst, fordere aber auch, dass sie verstehen, was in dieser Musik passiert und weshalb sie so besonders klingt. Und da hat der Jazz gegenüber der Klassik wegen seines schülernahen „Drives“ sicherlich einen Vorteil.
nmz: Das heißt, in der Auseinandersetzung mit Jazzmusik können einerseits viele spezielle musikalische Inhalte vermittelt werden, aber es bieten sich auch zahlreiche weitere pädagogische Chancen?
Aichner: Absolut. Im Jazz steht mehr als in der klassischen Musik das Spielen ohne Noten und eine Orientierung weg vom Visuellen, hin zum Auditiven im Mittelpunkt. Die Schüler lernen, aufeinander zu hören, sich an den Mitspielern zu orientieren und so die Erfahrung eines lebendigen Musizierens im sozialen Kontext zu machen. Dies erfordert neben speziellen Musikkenntnissen vor allem eigene Disziplin, Konzentration, aber auch Offenheit, die man beispielsweise durch körperorientierte Methoden noch vertiefen kann. Den Schülern macht es Spaß, die Stufen des Blues-Schemas mit Bewegungsaktionen zu verknüpfen oder ihre Emotionen in eigenen Improvisationen auszudrücken, ohne dabei die Mitspieler „aus den Ohren“ zu verlieren. Der Jazz fordert diese Aufmerksamkeit und dabei entsteht oft durch die Lust am Ausprobieren Neues und Unverbrauchtes. Dadurch, dass der Jazz sehr offen ist für verschiedene stilistische Strömungen, wie zum Beispiel Rock, Folklore oder Latin, kann hier fast jeder glücklich werden. Ich glaube, so schaffen wir es, mehr Kinder zum lustvollen Spielen mit dem Instrument heranzuführen. Für die Lehrkraft bleibt die Herausforderung, durch geschickte eigene Arrangements auf die teils ungewöhnlichen Besetzungen in der Schule zu reagieren. Gleichzeitig bedeutet der Jazz für die Spieler einen intellektuellen Anspruch. Von einfacher Pentatonik bis hin zu äußerst komplexen harmonischen Sachverhalten ist alles kombinierbar, wodurch auch in heterogenen Gruppen oder Klassen Binnendifferenzierung ermöglicht wird.
Außerdem bin ich überzeugt, dass der Jazz die Chance bietet, Werte zu thematisieren, die für das menschliche Zusammenleben ungemein wichtig sind. Im Jazz sind die Hierarchien flach, jeder trägt auf seine Weise Verantwortung für die Gruppe, in deren Zentrum das achtsame Miteinander steht; beim Spielen geht es mehr um Geben als um Nehmen, mehr um Sein als um Haben. Die Schüler fühlen sich dadurch ernst genommen und in ihrer Persönlichkeit gestärkt. Natürlich stößt man mit dieser Haltung auch auf Widerstände in einer auf das Materielle orientierten Gesellschaft. Aber auch das ist eine wichtige Erfahrung und es lohnt, sich mit dem „Werkzeug“ Jazz auf den Weg zu einer menschlicheren Zukunft zu machen.
Interview: Renate Reitinger