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Kammermusik als Prinzip

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Gemeinsamer Kongress von ESTA und EPTA in Nürnberg
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Gemeinsames Musizieren von Streichern und Pianisten stand bei der Tagung der European String Teachers Association (ESTA) und der European Piano Teacher Association (EPTA) vom 21. bis 23. Oktober 2011 im Mittelpunkt. In Kooperation mit dem Germanischen Nationalmuseum und der Hochschule für Musik Nürnberg wurde ein hochkarätiges Programm aus Vorträgen, Konzertbeiträgen und Unterrichtsdemons-trationen geboten, das nach mehreren Jahren getrennter Kongresse wieder einmal die Überschneidungsthemen von Streichern und Pianisten in den Mittelpunkt stellte und zahlreiches Publikum anlockte.

 

Ulrich Mahlert sucht in seinem Eröffnungsvortrag nach dem „Prinzip Kammermusik“ und findet es nicht nur im Ensemble- und Gruppen-, sondern auch im Einzelunterricht und im solistischen Spiel. Kammermusik definiert er zunächst als eine spezielle Kultur des Musizierens mit dem Ziel eines gelingenden, stimmigen und erfüllenden Miteinanders. Dies erfordere einen speziellen Teamgeist der Musizierenden und Lehrenden. Als große Herausforderung für die Spieler von Kammermusik benennt er die Darstellung der vielfältigen musikalischen Fakturen und Rollenbeziehungen sowie der schnellen Wechsel im musikalischen Verlauf. Die-se erfordern ein Zu- und Aufeinanderhören der besonderen Art sowie mimetische Kommunikation der Spielenden untereinander. Mahlert betont weiterhin die soziale Funktion der Kammermusik: Kammermusikpartner spielen miteinander, füreinander und voreinander, woraus einerseits eine hohe motivationale Wirkung für das Üben des Einzelnen, andererseits eine geradezu „verschwörerische Nähe“ zwischen den Spielenden entstehen kann.

Für die Praxis schlägt er klassenübergreifende Lern- und Unterrichtsmodelle vor, zum Beispiel Streicher unterrichten Pianisten und umgekehrt. Zentral erscheint ihm dabei die Vorbildrolle der Lehrenden, die sowohl im Lehrer-Lehrer-Team als auch in Lehrer-Schüler-Teams zur Entfaltung kommen kann. Wichtig ist, dass die Selbstständigkeit der Spielenden gefördert wird und ein gleichberechtigtes Miteinander entsteht, etwa durch Rollenspiele, gegenseitiges Vor- und Nachsingen, Improvisation, gemeinsames Vom-Blatt-Spiel, nonverbale Probentechniken und rotierende Führungsfunktion. So entsteht ein Repertoire an Probetechniken einerseits und vielfältige soziale Hör- und Wahrnehmungserfahrungen andererseits, die die Schüler zur selbstständigen Teamarbeit befähigen. Auch im Solospiel und im Einzelunterricht lassen sich diese Prinzipien integrieren: Die imaginäre Interaktion verschiedener Charaktere, der Wechsel von Spannung und Entspannung sind Merkmale lebendigen Musizierens und sollten daher im Sinne eines „inneren Teams“ auch Leitidee beim solistischen Musizieren sein.

Dennoch ist Kammermusikunterricht dadurch nicht zu ersetzen. Kritisch merkt Mahlert in diesem Zusammenhang an, dass im Musikschulalltag zunehmend Kammermusik- und Ensemblestunden zugunsten von Großgruppenunterricht in Kooperationen mit anderen Einrichtungen zurückgefahren werden. Notwendig ist jedoch beides: Kammermusik als Prinzip in alle Unterrichtsformen zu integrieren und gleichzeitig Raum zu geben für kammermusikalische Praxis im eigentlichen Sinne.

Sehr aufschlussreich waren die Vorträge der Klavierdidaktikerin Sibylle Cada zum konstruktiven Umgang mit Fehlern – sowohl eigenen als auch denen von anderen. Sie plädiert für eine Sichtweise, bei der „Fehler“ als Lern- und Kooperationsanlass, das heißt als gemeinsame Herausforderung an die Problemlösekompetenz von Schüler und Lehrer behandelt werden. Zum Nachvollzug des sehr ansprechenden Vortrags des Psychoanalytikers Helmuth Figdor zu den emotionalen und psychologischen Aspekten des gemeinsamen Musizierens sei hier die Lektüre seines mit Peter Röbke veröffentlichten Buches „Das Musizieren und die Gefühle. Instrumentalpädagogik und Psychoanalyse im Dialog“ (Schott) empfohlen. Ein zentrales Thema des Zusammenspiels umriss Holger Best in seinem Vortrag zum Thema Intonation. Unter Einbeziehung historischer Quellen und Bezug nehmend auf die im Rahmen der Tagung gehörten Konzertbeiträge und Unterrichtsdemonstrationen beleuchtete er die verschiedenen Stimmsysteme und die daraus resultierenden verschiedenen Einstimmverfahren in der kammermusikalischen Praxis. Herausragend war auch der englischsprachige Vortrag von Nadja Lasserson, Kammermusikspezialistin aus London und Tochter von EPTA-Gründerin Carola Grindea. Sie stellte in nicht weniger als 28 kommentierten Videoclips Ausschnitte aus originaler Kammermusik mit leichtem Klavierpart (Unterstufe bis Mittelstufe) vor. Die Videobeispiele entstammten vorwiegend der Arbeit mit Schülerinnen aus allgemeinbildenden Schulen, die vor oder nach dem normalen Unterricht freiwillig zum gemeinsamen Musizieren kamen. Die musikalische Arbeit stellte dabei häufig auch eine Art Sozialarbeit dar, da auch Schüler mitwirkten, die auf Grund mangelnder schulischer Leistungen oder wegen moralischer Verfehlungen bereits von der Schule verwiesen waren. Das vorgestellte Repertoire umfasste unter anderem Werke von Schubert, J.C. Bach, Dvorák, Mozart, Saint-Saëns, Weber, Giordiani, Donizetti, Tschaikowski, Beethoven, Strauss und Martinu. Eine sorgfältig erstellte, umfangreiche Bibliographie ist bei der Referentin erhältlich. Für alle Lehrenden im Bereich Kammermusik empfehlenswert.

Hier schließt sich auch der Kreis in Bezug auf die von Mahlert ausgeführten Überlegungen: Kammermusik kann und muss von Anfang an, in allen Könnensstufen und Unterrichtsformen als Prinzip in den Unterrichtsprozess integriert werden. Sie ist nicht das Ende der Fahnenstange, sondern die zentrale Möglichkeit, vielfältige (musikalische) Lernprozesse im gemeinsamen Spiel anzustoßen.

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