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„Kein Lebendiges ist ein Eins, immer ist‘s ein Vieles“

Untertitel
„Kulturelle Aneignung“ – ein Problem? Von Norbert Schläbitz
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In der Dezember/Januar-Ausgabe erschien Tobias Hömbergs Artikel „Kulturelle Aneignung, Musik und Unterricht“. Norbert Schläbitz, den Lehrstuhlinhaber für Musik und Musikpädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, hat er zu folgendem Essay angeregt:

Wer die titelgebenden Verse aus Goethes „Epirrhema“ kennt, weiß, dass sich Welt durch Vielgestaltigkeit auszeichnet. Die Diskussion um „Kulturelle Aneignung“ immaterieller Kulturgüter beziehungsweise ihrer Ächtung entspricht dem nicht. Wer darf beispielsweise Dreadlocks tragen? Ronja Marzahn, eine Studentin unseres Instituts, als weiße Frau danach eindeutig nicht. Sie wurde von „Fridays For Future“ wegen der ‚falschen‘ Frisur ausgeladen. Wie unterkomplex dies ist, zeigt auch folgender Fall: Ein Paar, beide tragen Dreadlocks, er ist weiß und in Afrika geboren, sie mit dunklem Teint aber in einer deutschen Stadt: kennt Afrika nicht. Ihre Dreadlocks sind akzeptiert, die ihres Mannes nicht. Die Kritiker möchten ‚guten Willen‘ zeigen und urteilen nach Augenschein (sprich: Hautfarbe). Beide werden diskriminiert: Sie möchte als Deutsche angesprochen werden, wird aber von Dritten, ‚guten Willen‘ zeigend, auf ihre Hautfarbe/vermeintliche Herkunft reduziert. So wird sie als Opfer identifiziert – auf ewig. Ihm bleibt nur das Täterprofil.

Die Diskussion um Kulturelle Aneignung lässt sich von einem einfachen Gut/Böse-Schema leiten, ist moralisch motiviert. „Eine Kommunikation nimmt moralische Qualität an, wenn und soweit sie menschliche Achtung oder Mißachtung zum Ausdruck bringt.“[1] Moralismus betreibt Segregation, und Segregation verläuft unter dem Stichwort Kulturelle Aneignung. Einvernehmen ist dabei nicht zu erzielen, denn „Moral ist polemogener Natur.“[2] Die Moral, der ‚gute Wille‘, wird als Zentralorgan allen (Wissens-)Systemen und so auch der Musik als filternde Ordnungsmacht aufoktroyiert. In einer funktional differenzierten Gesellschaft (und so in der Musikpädagogik) ist vom ‚Zentralorgan Moral‘ abzusehen: Es befriedet nicht: es eskaliert.

Symbolische Ordnungen & transkulturelles Sein

 „In Wirklichkeit ist die Spur der absolute Ursprung des Sinns im allgemeinen; was aber bedeutet, […], daß es einen absoluten Ursprung des Sinns im allgemeinen nicht gibt. Die Spur ist die *Differenz, in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen.“[3] Kultur ist ein Prozess, multidimensional, nicht-linear entworfen, kennt keine explizite Ortsbestimmung. Wenn dann logisch-kausal zum Beispiel Reggae oder Dreadlocks doch explizit identifiziert werden, ist das einem Schluss geschuldet, der von weltlich-linearer Zeitlichkeit europäischen Denkens infiziert ist, das „die ganze Ontologie von Aristoteles bis Hegel im Innersten determiniert“.[4] Hier wird eine Aufeinanderfolge konstruiert, die es so nicht gibt. Welt-/Kulturgeschehen fügt sich, verändert sich gleichzeitig wie parallel. Kulturelle Aneignungen sind Ergebnisse mäandrierender Prozesse und widersprechen performativ aller ontologisch motivierten Bedeutungskonstruktion westlicher Diktion.

Die Kritik an Kultureller Aneignung ist so paradoxerweise ganz im Geist europäischer Denktradition formuliert. Von Verfälschungen symbolischer Ordnungen zu reden, wenn Nicht-Jamaikaner Reggae spielen oder Dreadlocks tragen, kann keine Rede sein, es ist ihnen wie seit je ein komplexes Bewegungsmoment inhärent, ist das, was sie lebendig erhält. Und Kulturelle Aneignungen garantieren, dass symbolische Ordnungen und Sinnzuschreibungen nicht bleiben, was sie sind, sondern dass sie der Vielfalt anzupassen fähig sind.

Es ist im Zuge global zirkulierender Medienflüsse müßig „von ursprünglichen, traditionellen oder in sich konsistenten, kulturell reinen musikkulturellen Zusammenhängen zu sprechen.“[5] Die digitalen Medien liefern ein Environment, ihre Botschaft lautet: „Vernetze mich“. Das ist die Turing-Galaxis, die Welt der Digitalität, benannt nach dem Erfinder des Computers heutiger Provenienz: Alan Turing. Sie steht für Vernetzungen. Die Gutenberg-Galaxis, die Welt des zeilengeprägten gedruckten Buches, sie tritt dafür Stück für Stück zurück. Die Wirklichkeit der Medien sozialisiert jede tiefgründige Symbolik, löst symbolische Codierungen auf, überführt sie in Ästhetik. Als ästhetisches Kolorit, das Kultur geworden ist, ist sie Material geworden, das Anteilnehmenden zur Verfügung steht. Auf diese Weise lebt Kultur und entwickelt sich auch ein ICH. Die Turing-Galaxis lässt Sinnofferten explodieren.[6] Eine Haltung ist einzunehmen im Sinne der Pascal‘schen Wette: „Das Spiel hat längst begonnen, und der Einsatz ist gemacht – wir können nur noch die unendliche Chance wahrnehmen.“[7] Mitspielen und nicht verweigern, darin liegt die von Kontingenz geprägte Lösung. Ein Plädoyer für Komplexität.

Die Turing-Galaxis steckt das Feld im globalen Maßstab ab, was weiter eine transkulturelle Prägung unhintergehbar macht. „Es gilt, von den alten Denkweisen sauberer Trennung und unilinearer Analyse abzurücken und zu Denkformen des Gewebes, der Verflechtung, der Verkreuzung, der Vernetzung überzugehen. Dieser Vorgang betrifft nicht nur die Rationalitätstheorie, sondern ebenso die Kulturtheorie […] sowie die Subjekttheorie.“[8] So wenig wie Musik und kulturelle Praxen scharf umrissen sind, sondern aus vielen Richtungen kommend in viele driftet, so wenig ist auch der Mensch auf wenige Merkmale zu reduzieren. Transkulturalität meint, dass „die kulturellen Determinanten nunmehr quer durch alle Gesellschaften hindurchgehen, so dass kulturelle (sic!) Verhältnisse inzwischen durch Verflechtungen und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind.“[9] Kunst ist transkulturell aufgestellt und Kulturelle Aneignung der Weg zum transversalen/transkulturellen Selbst. „Bastelbiografie“ sagte man ganz entspannt vor gar nicht so langer Zeit zu diesem diversitätsgeprägten, ästhetischen Profil. Der Mensch, der sich merkmalsreduziert identifiziert: Es gibt ihn nicht. „Die Illusion der Singularität [von Kulturen / eines Kollektivs] stützt sich auf die Annahme, ein Mensch sei nicht als Individuum mit vielen Zugehörigkeiten oder als Mitglied verschiedener Gruppen zu betrachten, sondern ausschließlich als Mitglied eines einzigen Kollektivs, das ihm eine Identität von überragender Bedeutung verleiht. Der unausgesprochene Glaube an die umfassende Erklärungskraft einer einzigen Klassifikation ist nicht nur schlicht, […], er ist auch noch, […], gröblich auf Konfrontation ausgerichtet.“[10] Der Konflikt ist unvermeidlich, wenn personale Identität mit kulturellen Eigentumsverhältnissen zu Moden, Frisuren, Musikstilen verknüpft wird, die, ungesichert bleibend, frei flottieren. „Durch starke partielle Identitäten verringert sich das Vertrauen zwischen Angehörigen von Eigen- und Fremdgruppen sogar oft.“[11] Die exklusive Vereinnahmung eines Unterschieds spaltet in einer Zeit, wo die Spaltung transkulturell in Kunst und ICH längst aufgehoben ist. Ein Miteinander über Grenzen hinweg sollte dagegen auf Versöhnung angelegt sein.

 

„Sein ist wahrgenommen werden“ (George Berkeley)

Mit Ächtung Kultureller Aneignung und dem Prinzip ‚Authentizität‘ wird eine neue „Sortiermaschine“[12] eingeführt: Reggae darf nur spielen, wer seine Wurzeln in Jamaika hat. Christian Höppner kritisiert: „Einem Menschen, egal welcher Hautfarbe, Religion oder Herkunft das Recht abzusprechen oder zu behaupten, dass derjenige das nicht kann, das […] ist der falsche Ansatz. […] Stellen Sie sich mal vor, man würde einem nichtdeutschen Menschen das Recht absprechen, Johann Sebastian Bach zu interpretieren, weil Bach […] hier geboren wurde und gewirkt hat. Das ist doch absurd.“ Das Ergebnis ist entscheidend, abzusehen „von Rasse, von Herkunft oder ideologischer Grundposition.“[13] Die Inklusion, sie käme zum Erliegen, wenn das Prinzip Authentizität griffe.

Um die Kultur anderer zu schätzen, ist sie zu leben, mit den eigenen Erfahrungen zu verbinden, zu eigenen Erfahrungen zu machen. Durch das Ausüben des „Menschenrechts auf Kulturelle Teilhabe“, wie es in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ heißt, kann mit fremden Kunstformen bekannt gemacht und gelernt werden, die wertzuschätzen, die ansonsten unsichtbar blieben. Wer kennt schon die Künste des „Haareflechten[s], Stelzenlaufen[s] oder Weben[s]“[14], die auf anderen Kontinenten wichtig sind? Wie will man einen Sinn dafür entwickeln, sie schätzen, wenn man dem Prinzip Authentizität folgt, was ein Mittun ablehnt? „Esse est percipi“ in den Künsten gelingt über den Weg von figuraler zu formaler Repräsentation. Mit anderen Worten: Aus einem handelnd Begriffenen ist eine Ahnung abzuleiten, was an Kunst geboten wird.[15] Das ist der Brückenschlag, um Teilhabe zu eröffnen, und über kulturelle Anregung Kulturelle Aneignung zu fördern.

Brücken bauen, Gräben schließen und der zentripitale Blickwinkel

Das postmoderne Geschehen von einst, es wurde von Leslie Fiedler 1968 in Thesen gegossen, das Mischen von Stilen, die Grenzüberschreitungen zwischen Literaturen, desgleichen die zwischen Musiken (Mozart mit Monkeys bspw.), das Kunstförmige im Nicht-Kunstkonformen finden et cetera. Mit seiner Diagnose („Cross the border – close the gap“) hatte die westlich motivierte, europäische Klassische Moderne ausgedient. Diesen Grundsatz, „Close the gap“ zu beherzigen, wird schwer gemacht, wenn aus kolonialer Vergangenheit ein Schuld-Motiv abgeleitet wird. Kwame Anthony Appiah lehnt moralische Erwägungen ab, wenn er dazu anregt, nicht zu betonen, was falsch war in der Vergangenheit, sondern zu schauen, was möglich ist. „Wir haben nur Macht über die Zukunft.“[16] Für die kolonialen Diebstähle sind die heute Lebenden nicht verantwortlich. Er denkt nicht von der Herkunft, sondern von der Zukunft aus. Dieser Ansatz auf Verständigung repliziert nicht das Täter-/Opfer-Motiv, wo die Täter Täter und die Opfer Opfer bleiben. „Close the gap“ wird möglich.

Der Vorwurf ökonomischer Ausbeutung musikalischer Kulturen, auch er besteht. Er ist von einer Metaebene anzugehen: Ausbeutung ist nicht postkolonial zu verorten, sie ist Musikschaffenden allgemein ein Problem. Gemeinsam über Grenzen hinweg mit anderen das Problem anzugehen, ist dem „Close the gap“ gewogen.

Die Kontroversen zu Kultureller Aneignung sind überdies Indiz gelungener Integration, sprich: von „diversity“. „Für Status und Chancen einer Person in der Gesellschaft spielt eine spezifische Herkunft oder Identität eine immer geringere Rolle, und deshalb nimmt die Herkunft oder Identität im öffentlichen Diskurs einen immer größeren Raum ein. Immer mehr Menschen aus benachteiligten Gruppen haben nun die Macht und die Kompetenz, sich zu organisieren und in den Diskurs einzubringen. […] Es gibt weniger Diskriminierung und mehr Teilhabechancen. […] Es setzen sich […] in aller Regel nicht die Benachteiligten gegen Benachteiligung ein, sondern hochgebildete und statushohe Menschen, die einer benachteiligten Gruppe angehören oder ein benachteiligtes Merkmal aufweisen.“[17] Konklusion: Je weniger Diskriminierung, um so lauter der Protest. Von der Moral sich abzuwenden heißt, der Wirklichkeit sich zuzuwenden. Integration und „Close the gap“: auf gutem Weg.

Musikpädagogisch zu wirken heißt danach, nicht zu simplifizieren. Die Semantiken von Moralismus, Authentizität, Ursprünglichkeit oder Kultureller Aneignung sind Filter, die Komplexität, Mehrdimensionalität aussieben, negieren, obwohl sie alltäglich sind. Das Hervorheben jener Semantiken führt zum Paradox,

  • dass Ursprünglichkeit, Authentizität das Maß für Inklusion und diversity nicht weiten, sondern enger stellen, und im Übrigen nicht kongruent herleitbar sind,
  • dass der kommunizierte Moralismus Grenzen nicht überwindet, sondern neue zieht, Konflikte schürt und Realitäten verkennt,
  • dass die Betonung eines als privilegiert angesehenen Eigenen kaum Anerkennung finden kann, wenn dessen Sichtbarkeit durch Ächtung Kultureller Aneignung gefährdet ist.

Der Musikpädagogik ist der Blickwinkel von ‚Herkunft auf Zukunft‘ anzudienen und eine ‚Orientierung am Dispositiv‘ der Schlüssel dazu.[18] Nicht isolieren, integrieren, um zu partizipieren am Dialog der Kulturen. Im Interesse zeigen für die Differenzen im Kontext von Globalität ist durch eine hybride Kultur etwas Gemeinsames zu schaffen.

Dem ‚guten Willen‘ ist abzuschwören: er schadet nur, diskriminiert zu allen Seiten hin. Den Vorbehalt zu Kultureller Aneignung gilt es auf Distanz zu halten, ein Sichtbarmachen anzugehen, das gemeinsame Spiel mit Musik (wo auch immer herkommend) pflegend. Transkulturell aufgestellten jungen Menschen wird so Respekt erwiesen, sie werden nicht mehr stereotyp beleuchtet, unterkomplex bedacht. „Kein Lebendiges ist ein Eins, immer ist‘s ein Vieles“. Es sollte der Musikpädagogik Leitgedanke sein. Der zentripetale Blickwinkel hilft dabei.

 
  • [1] Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 31998, S. 361.
  • [2] Ebd., S. 370.
  • [3] Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 31990, S. 114.
  • [4] Ebd., S. 153,
  • [5] Binas-Preisendörfer, Susanne: Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit. Popmusik auf globalen Märkten und in lokalen Kontexten. Bielefeld (transcript) 2010, S. 68.
  • [6] Vgl. Schläbitz, Norbert: Die Turing-Galaxis. Von der Ästhetik digitaler Musik und zum diskreten Charme der Neuen Medien. Osnabrück (epOs) 2022.
  • [7] Bolz, Norbert: Das ABC der Medien. München (Fink) 2007, S. 21.
  • [8] Welsch, Wolfgang: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 21996, S. 775.
  • [9] Welsch, Wolfgang: Transkulturalität. Realität – Geschichte – Aufgabe. Wien (New academic press) 2017, S. 110.
  • [10] Sen, Amartya: Die Identitätsfrage. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München (Beck) 42020, S. 58.
  • [11] Fukuyama, Francis: Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet. Hamburg (Hoffmann und Campe) 42019, S. 157.
  • [12] Vgl.: Mau, Steffen: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. München (Beck) 2021.
  • [13] Christian Höppner im Radiointerview bei Deutschlandfunk Kultur (30.03.2021).
  • [14] Fuchs, Max: Elfenbeinturm oder menschliches Grundrecht? In: Mandel, Birgit (Hg.): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens. Bielefeld (transcript) 2016, S. 53.
  • [15] Vgl. Gruhn, Wilfried: Der Musikverstand. Neurobiologische Grundlagen des msuialischen Denkens, Hörens und Lernens. Hildesheim/Zürich/N.Y. (Georg Olms) 2008.
  • [16] Thomas Thiemeyer im Gespräch mit Kwame Anthony Appiah. Kosmopolitismus und Kulturerbe. In: Stiftung Humboldtforum im Berliner Schloss (Hg.): (Post-)Kolonialismus und kulturelles Erbe. Berlin (Hanser) 2021, S. 64.
  • [17] El-Mafaalani, Aladin: Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand. Köln (Kiepenheuer & Wietsch) 2021, S. 132f.
  • [18] Schläbitz, Norbert: Die Turing-Galaxis, a.a.O., S. 748-775.

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