Er kam gerade aus Duisburg, wo ihm der Musikpreis der Stadt verliehen worden war. Da findet man ihn jetzt in einer Reihe mit Preisträgern wie Yehudi Menuhin, Hans Werner Henze und Krzysztof Penderecki. Hier zu Stade hockt der Komponist Gerhard Stäbler im Schneidersitz bei den Vorschulkindern und bringt ihnen bei, nicht, wie man auf dem Kamm bläst, nein, noch schlichter: wie man ein Blatt Papier zu einem Musikinstrument macht, indem man seinen Rand am blasenden Mund vorbeiführt. Muss das sein?
Es ist die letzte Oktoberwoche im Jahr 2003. Der andere Hauptakteur ist Kunsu Shim, deutscher Komponist koreanischer Herkunft. Wie bereitet er sich auf seinen dreimonatigen Japanaufenthalt vor, der kurz bevorsteht, wo er das angesehene Genko Uchida Fellowship wahrnehmen wird? Mit einer Gruppe von Kindern in der Grundschule wickelt er Pralinen aus. Sie lauschen auf das Knistern der Folien. Plötzlich Stop. Ihr Gehör dringt vor in die Stille. „Pièce japonaise“ heißt seine Performance aus dem Jahr 2000, „für eine beliebige Anzahl von Spielern“.
Die Vorgänge finden statt im Altländer Viertel von Stade, das in umlaufenden Programm- und Strategiepapieren als sozialer Brennpunkt bezeichnet wird, deutlicher: als Elendsviertel. Von den etwa 2.500 Bewohnern sind 40 ProzentAusländer oder Aussiedler, 60 Prozent Sozialhilfeempfänger. 16 oder 17 Ethnien leben hier, und die Häuser hindurch ziehen sich spezifische „Milieus“, die sich herausgebildet haben. Die Kriminalität ist beträchtlich, auch die Jugendkriminalität. Bei den Kindern ist der Anteil der Nicht-Deutschstämmigen, unter ihnen Kurden, Sinti, Libanesen, noch wesentlich höher: über 80 Prozent. Die Stadt an der Elbemündung schlägt man der Waterkant zu; doch in dem „Stadtteilkulturprojekt“ von einer Woche, das die beiden Komponisten mit etwa 220 Kindern durchführen, in Kindergarten, Montessorischule und Jugendzentrum, sind die niedersächsischen Semmelköpfe in der Minderheit.
Dass Musik Schranken niederzulegen vermag und integrative Eigenschaften hat, weiß man, seitdem sie existiert. Dies wollen Shim und Stäbler nutzen, und dazu setzen sie ganz tief, an ihrer Basis, an. Am Montagmorgen sind alle Kinder beisammen in dem großen Bewegungsraum der Schule. Zuallererst gilt es, sie zu konzentrieren und einzustimmen. Ständiger Augenkontakt ist nötig. Beiden kommt zugute, dass sie erfahrene Performer sind: Stäbler hat viele Jahre Straßentheater praktiziert; bei Shim machen die Performance-Arbeiten einen wesentlichen Teil des Oeuvres aus.
„Was heißt Wasser?“, fragt Stäbler in der Gruppe Wasser. „av“, kommt es auf Kurdisch, „su“, auf Türkisch, „pânî“, auf Hindi. Und was für Klänge kann Wasser machen? Hierher gehört auch Stäblers „Rachengold“. Man hat es zutreffend ein Gurgelstück genannt, und wer es nicht zur Aufführung übernehmen will, ist kein richtiges Kind. Charakteristik und Besetzung lauten: Geheime Partitur für einen Vokalisten, ein Glas Wasser und große Stoppuhr (ad lib.). Dass es der Konzert- und Opernbetrieb ist, dem Komponist Stäbler, in öffentlichen Veranstaltungen meist selber der Vokalist, ein Contra gurgelt, steht auf einem anderen Blatt – und auf anderer Ebene. Bringt man ein Werk unter die Kinder, so zeigt sich, ob es körperlichen und sinnlichen Grund hat und ob man um es herumgehen kann, damit es Ansichten liefert.
Man kann die Kinderschar des Altländer Viertels ansehen als die Weltgesellschaft in der Nuss. So war es ein guter Griff, dass der KunstRaum-Hüll, der das Projekt im Einvernehmen mit der Kommune ins Leben rief, zwei kosmopolitisch orientierte und weltweit operierende Musiker dafür gewann, die gleichsam allezeit den Globus im Blick haben. Jeder von beiden arbeitet auf seine Weise gesellschaftsbezogen; Stäbler tut’s geradezu notorisch. Wenn es ihm darum geht, Welten zusammenzuführen – Kulturwelten, Denkwelten –, sie auf dem Wege des Montierens von Bestandstücken ineinander zu stellen, so dass sie einander durchdringen, so kommt es dem anderen darauf an, was Welt heißen kann, in den grenzenlosen Raum der Stille einzusenken und mit ihr zu durchtränken.
Der KunstRaum hat seinen Sitz in Drochtersen-Hüll, etwa zwanzig Straßenkilometer nördlich von Stade. Er widmet sich in seinem Gebiet zwischen Elbe und Weser der zeitgenössischen Kunst und auf dem Felde der Musik entschieden der Neuen Musik. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Zusammenarbeit mit Jugendlichen. Bei den Leuten vom Metier genießt die Scheune, die unter Denkmalschutz steht und die umgebaut wurde, den Ruf eines Veranstaltungsraums mit besonders guter Akustik.