Die im April 2007 von der ARD bundesweit mit großer Resonanz ausgestrahlte Themenwoche „Kinder sind Zukunft“ nahm der Traditionsklangkörper des MDR in Leipzig erstmalig zum Anlass, sich einem konzertpädagogischen Projekt für Grundschulkinder zu widmen. Das abschließend wie so oft einhellig als „außerordentlich gelungen“ bewertete Konzept ist einmal mehr ein Indiz dafür, dass die besten und tragfähigsten Projekte an den Orten entstehen, wo sich die Orchester- und Chormitglieder selbst mit eigenen Ideen an der inhaltlichen Ausgestaltung des Gesamtkonzeptes beteiligen. Zur großen Freude aller Teilnehmenden ließen sich für die Leipziger „Premiere“ ehrenamtlich ein Schlagzeugquartett, ein Bläserquintett sowie vier Choristen des MDR gewinnen, Schulbesuche samt Workshops durchzuführen beziehungsweise eine Woche später an einem Konzert für Schulklassen mitzuwirken. Das an die angelsächsische „Response-Tradition“ angelehnte Konzept wurde für Grundschulklassen entwickelt und enthielt für Schüler unterschiedlicher Jahrgangsstufen drei altersspezifisch differenzierte Module: Während die Erstklässler zusammen mit einem Schlagzeuger in erster Linie selbst experimentierend auf der Suche nach unterschiedlich knisternden, rasselnden, rauschenden und klopfenden Klangerzeugern waren, beschäftigten sich die etwas Älteren interdisziplinärer mit den Zusammenhängen von Gedichten und Musik, während die Viertklässler bereits recht eigenständig als „schreibende und malende Komponisten“ zum Verfassen von Partituren aufgefordert wurden. Eine Woche später wurden die Ergebnisse in der konzertbezogenen Profimanier auf die Konzerthausbühne gebracht und in Form einer thematisch stimmigen Zusammenführung der Kinder- und Profimusikerideen umgesetzt. Ob solch aufwendige Produktionen jedoch auch weiterhin ehrenamtlich zu vertreten sind, kann laut Aussage der beteiligten Ensemblemitglieder nur „die Zukunft“ zeigen…
Da sitzen sie: entspannt nach hinten gelehnt und mit geschlossenen Augen aufmerksam hörend beziehungsweise nach vorn gebeugt mit wachem Blick das wirbelnde Treiben der Schlagzeuger beobachtend oder auch lachend vertonten Gedichten sowie einem Bläserquintett lauschend und last but not least mit vor Erstaunen offenen Mündern sich über den Klangreichtum einer Sopranistin wundernd: Es kommt nicht oft vor, dass 80 Kinder so aufmerksam einem Konzert mit Neuer Musik folgen, wie dies im April 2007 im Musikproduktionskomplex des MDR in Leipzig der Fall war. Anlass des Kinderkonzerts war die ARD-Themenwoche „Kinder sind Zukunft“, und diese vom öffentlich-rechtlichen Senderverbund initiierte Woche nahm die Hörfunkwelle MDR FIGARO als passende Gelegenheit, nicht nur über Kinder und für Kinder zu berichten, sondern auch einmal mit Kindern ein Programm zu gestalten. Die Kulturwelle organisierte im Vorfeld des Konzertes Schulbesuche bei drei Leipziger Grundschulklassen. Gemeinsam mit der Musikwissenschaftlerin Christine Mellich, die das Konzept erarbeitet hatte, kamen Musiker der MDR-Klangkörper in die Unterrichtsräume und stellten zunächst einmal jeweils ihre Instrumente vor.
Da war zum Beispiel Thomas Winkler, ein Schlagzeuger des MDR-Sinfonieorchesters. In zwei Doppelstunden in der 120. Grundschule im Leipziger Stadtteil Großzschocher ließ er es so richtig krachen. Denn der Percussionist schleppte einen Koffer voller Schlagwerk mit zu den Kindern und probierte gemeinsam mit den Erstklässlern das Mitgebrachte gebührend, also lautstark, aus: Dynamik, Tempo und Rhythmus standen im Mittelpunkt der Probe – schließlich sollte das vorzubereitende Konzert unter dem Motto stehen: „Wie entsteht Musik?“ Neben dem Spaß an leisen und lauten Geräuschen kam auch die Freude am Selbermachen nicht zu kurz: Denn – so viel war sehr schnell klar – ein Schlagwerk lässt sich aus vielerlei Gegenständen herstellen. Als Hausaufgabe sollten die Kinder Rasseln basteln sowie nach klangvollen Topfdeckeln und anderen „klingenden“ Alltagsmaterialien suchen.
Für Thomas Winkler war es in der zweiten Doppelstunde eine Woche später faszinierend zu erleben, wie die „Rasselbande“ sehr schnell einen gemeinsamen Rhythmus fand, aber mehr noch erstaunte ihn die Fähigkeit zur Stille: „Das hätte ich so nicht erwartet, wie still eine Gruppe von 20 Siebenjährigen sein kann, wie gut sie einen gemeinsamen Anfangs- und Endpunkt findet, welche positive Gruppendynamik da entstehen kann.“ Im Konzert gaben die Schülerinnen und Schüler aus Großzscho-cher dann den Auftakt. Und spätestens, als ihnen Thomas Winkler und drei seiner MDR-Kollegen Ausschnitte aus „Living Room Music“ von John Cage vorspielten, bekamen sie einen Eindruck von der Kraft und dem Ausdruck, der in Schlagwerken aus Alltagsgegenständen stecken kann.
Die Kombination aus eigener Musik-(mach-)erfahrung und der konzertanten Darbietung durch Profimusiker gehörte zum Erfolgskonzept des Konzertes, welches an die britische „Response“-Tradition angelehnt ist, wie die Musikwissenschaftlerin Christine Mellich am Rande des Konzertes sagte: „In Großbritannien gibt es seit langem schon die ,Response‘-Musikprojekte. Das kommt vom ‚Responsorium‘ – einer mittelalterlichen Vokalkomposition, die von einem Vorsänger und einer unbedarften Gemeinde vorgetragen wird. Wenn man dieses Prinzip auf das hiesige Schülerprojekt mit dem Titel ,Wie entsteht Musik?‘ überträgt, kann man das durchaus als einen experimentierfreudigen Wechselgesang verstehen.“ Die „unbedarfte Gemeinde“, erklärt die Mittdreißigerin, die auch jeweils die Unterrichtsstunden begleitete, besteht in diesem Fall aus drei Leipziger Grundschulklassen. Und die Vorsänger, das sind eben die Musikpädagogen und die Profimusiker wie Thomas Winkler oder Max Hilpert.Letztgenannter ist ein vielbeschäftigter Bläser des MDR-Sinfonieorchesters, der seinen Urlaub regelmäßig im Orchestergraben von Bayreuth verbringt. Für das „Projekt Kinderkonzert“ nahm er sich die Zeit, den Schülerinnen und Schülern der vierten Klasse in Panitzsch vorzuführen, wie aus einem Waldhorn schmetternde Töne entlockt werden können, was ein Alphorn von einem Ventilhorn unterscheidet und wie die Länge der gebogenen Rohrstücke die Tonlagen bestimmen. Viel Spaß hatten die Kinder bei ihren Versuchen, selbst dem Alphorn Töne zu entlocken, und mit Freude gingen sie daran, ein vorgegebenes Gedicht zusammen mit dem Orchestermusiker zu intonieren. Wie klingt ein stolzer, dicker Kater? Und wie ein schlanker, behänder, der nachts um die Häuser schleicht? Und wie lässt sich auf einem Horn ein Kampf zwischen den beiden nachtaktiven Raubkatzen musikalisch am besten ausdrücken?
Die Klang-Ergebnisse ihres gemeinsamen Experimentierens brachten Musiker und Schüler beim Konzert in Leipzig zu Gehör. In diesem zweiten Teil des Kindermusikprojektes gab es auch die Gelegenheit, Vergleiche anzustellen. Das Gedicht „Die Kater“ von Rhoda Levine wurde nach der Schülerfassung auch in der Originalvertonung von Luciano Berio aufgeführt, diesmal vom Bläserquintett des MDR-Sinfonieorchesters.
Der dritte und letzte Teil des Konzertes rückte nach der Gegenüberstellung der Parameter Dynamik, Tempo und Rhythmus (Teil 1 – Schlagzeug), Klangfarbe und Tonhöhe (Teil 2 – Blasinstrumente) die menschliche Stimme sowie die Notationsmöglichkeiten von Musik in den Mittelpunkt. Die vierte Klasse der Waldorfschule in Leipzig-Mockau hatte dafür die Aufgabe erhalten, in Anlehnung an die Partitur von Cathy Berberians „Stripsody“ eigene grafische Partituren aus Comic-Strips und Selbstgezeichnetem zu komponieren. Ein Sängerquartett des MDR-Chores übernahm es dann, die 18 entstandenen Partiturblätter im Konzert zur Uraufführung zu bringen. Für die Sängerin Bettina Reinke-Welsh ein ungewöhnliches, aber erfrischendes Verfahren. „Ich denke, durch diese Art des Herangehens können Kinder sehr gut an Musik, und insbesondere an Neue Musik, herangeführt werden. Die Kraft der Musik durch das eigene Schaffen zu erfahren, das ist doch ein sehr positives Erlebnis“, sagte die Altistin nach dem Konzert, in dem ihre Stimme – den Kinderpartituren folgend – mal als Polizeisirene, mal als hechelnder Hund und mal als schreiendes Baby gefordert war.
Am Ende des von MDR-Musikredakteurin Bettina Volksdorf moderierten Konzertes „Wie entsteht Musik?“ stand für alle Beteiligten fest – es sollte mit diesem „Response“-ähnlichen Konzert ein Anfang gemacht werden für weitere Projekte dieser Art. Ob die Kraft dafür auch außerhalb von ARD-Themenwochen vorhanden ist, das wird die Zukunft zeigen. Die musikalische Bildung der Kinder sollte es wert sein ...