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Stadtkomponisten der „Spurensuche“ in Göppingen: Astrid und Ephraim Wegner. Foto: Sarah Schmeller
Stadtkomponisten der „Spurensuche“ in Göppingen: Astrid und Ephraim Wegner. Foto: Sarah Schmeller
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Klangmaterial für die goldene Festplatte

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Das Netzwerk Neue Musik Baden-Württemberg geht in kleineren Städten auf „Spurensuche“
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Hinein ins kalte Wasser?! Menschen, die noch nie gemeinsam mit einem Komponisten und zahlreichen anderen Mitbewohnern in ihrer Stadt ein neues Projekt mit zeitgenössischer Musik entwickelt haben, entdecken für sich die Faszination bis dahin buchstäblich unerhörter Klänge. So oder so ähnlich ließe sich die Motivation beschreiben, die hinter dem Projekt „Spurensuche“ steht, das im Oktober sieben baden-württembergische Städte kulturell bewegen wird. Städte, in denen fraglos schon lange musiziert wird, die aber bislang kaum dadurch aufgefallen sind, dass dabei speziell Neue Musik eine größere Rolle gespielt hat. Schon gar nicht bei den hier im Mittelpunkt stehenden Laien-Ensembles wie Kirchenchören, Kantoreien, Blaskapellen, Musikschulorchestern und Gospel-Formationen.

Genau dies war der Reiz für Helga Maria Craubner und Katharina Weißenborn vom „Netzwerk Neue Musik Baden-Württemberg“. Sie haben schon vor über einem Jahr die Fährten für die „Spurensuche“ gelegt und neugierige Projektpartner gefunden: in Göppingen und Kirchheim/Teck, in Villingen-Schwenningen und Sinsheim, in Bruchsal, Blaubeuren und in Ellwangen. Orte, an denen das „Netzwerk“ bislang noch nie präsent war. Wobei die „Spurensuche“ keine beliebige sein wird, sondern schon eine zielgerichtete. Helga Maria Craubner muss dazu ein klein wenig ausholen: „Zeitgenössische Musik folgt ja oft einem kritischen Impuls und thematisiert auf künstlerische Weise unterschiedliche Probleme, die in unserer Gesellschaft, unserem sozialen Leben als negativ empfunden werden. Mit dem Großprojekt ‚Spurensuche‘ des Netzwerks wollten wir eine etwas andere Perspektive einnehmen und uns thematisch darum kümmern, was es im Hinblick auf die Zukunft, also in den nächsten zehn, zwanzig Jahren Positives geben könnte und sollte.“ Eine Suche dezidiert mit Menschen vor Ort, engagierten Amateuren, die Klänge entwickeln, die bisher nicht zu ihrem musikalischen Alltag gehörten. Neue Musik also als Suche nach der Antwort auf die Frage danach, wie wir unser Leben und gesellschaftliches Miteinander nach vorn bringen können. Ein hochgestecktes Ziel – im Oktober wird sich zeigen, ob und wie es gelingt, es zu verwirklichen.

Etwa in Villingen-Schwenningen, wo die „Spurensuche“ durchaus eine politische Dimension gewinnt. Denn die Gemeinde ist ein verwaltungstechnisches Kunstprodukt einer Gebietsreform der 1970er-Jahre. Mental aber haben beide Ortsteile nach wie vor ihren eigenen Kopf und sind absolut heterogen – hier württembergisch, dort badisch… „Es ist erstaunlich, dass es gar keine Berührungsängste gab, als wir dort unsere Idee formulierten und die Stadtverwaltung sofort Interesse signalisierte“, so Helga Maria Craubner.

Motor oder besser: Katalysator all dieser sieben „Spurensuchen“ sind Komponistinnen und Komponisten aus dem gesamten Bundesgebiet, die seit gut einem Jahr immer wieder einmal die von ihnen gewählte Stadt besuchen, ins Gespräch kommen mit den Musikanten „vor Ort“ – und gemeinsam mit ihnen an individuellen Klang-Konzepten arbeiten, die im Idealfall den „genius loci“ erspüren, aufgreifen und dem Publikum im Oktober, wenn das Projekt unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Winfried Kretschmann öffentlich wird, transparent machen. „Uns war wichtig, mit Komponistinnen und Komponisten zusammenzuarbeiten, die Erfahrung haben bei der Arbeit mit Laien und/oder semiprofessionell spielenden Akteuren“, unterstreicht Craubner.

Einer von ihnen ist Christoph Ogiermann. Er schwärmt für Sinsheim: „Dort gibt es für mein Gefühl zwar sehr wenig bis keine Erfahrung mit Neuer Musik – aber es ist die Stadt, die sich in meinen bisherigen Projekten mit am allermeisten dafür begeistert!“ Na bitte, da hat es ganz offensichtlich gefunkt schon beim ersten Kontakt zwischen dem animierenden Komponisten und denen, die ihr Mitwirken bei der „Spurensuche“ in Sinsheim zugesichert haben! Dort geht es darum, einerseits Repertoirestücke der Ensembles so zu transformieren, dass sie sich in einen stetig wechselnden Klangstrom verändern, andererseits die verschiedensten Formen der zeitgenössischen Notation (wie Grafik, space-notation etcetera) und ihre Verarbeitung (mittels Elektronik) den Teilnehmenden erfahrbar zu machen, dies alles filmisch an verschiedenen Orten der Stadt einzufangen und mit Botschaften zu versehen, die die Sinsheimer an die Zukunft richten wollen.

Das so entstandene Material wird Bestandteil einer mit Live-Musik bereicherten Aufführung sein, diese wiederum wird dokumentiert: „Wir speichern alles auf einer Festplatte, die wir ‚Golden Harddisc Sinsheim‘ nennen und die am Ort aufbewahrt wird“, erläutert Ogiermann. Wer weiß, wie die nächste Generation der Einwohner Sinsheims darauf reagieren und damit umgehen wird… Die sicht- und hörbare Stadt steht auch im Mittelpunkt der „Spurensuchen“ in Göppingen und Ellwangen. In Blaubeuren geht es den Menschen in erster Linie um ihr Wahrzeichen, den Blautopf, weshalb die Farbe Blau eine wichtige Rolle spielt und auch Einfluss auf die entstehende Musik nimmt.

Blau ist auch der inzwischen in Baden-Württemberg bestens bekannte Doppeldecker-Bus des Netzwerks Neue Musik, der bereits vor zwei Jahren erstmals durchs Ländle fuhr und mit spannenden Performances Aufmerksamkeit auf sich zog. Auch die „Spurensuche“ wird der Bus begleiten, für die Aktionen werben und in die Projekte eingebunden sein.

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