Viele ältere Menschen bedauern, dass sie in ihrem bisherigen Leben nicht die Möglichkeit hatten, ein Instrument zu erlernen oder aufgrund der hohen zeitlichen Belastung im Berufs- und Familienleben ein in der Kindheit erlerntes Instrument weiterzuspielen. Die tendenziell länger werdende nachberufliche Lebensphase bietet vielen die Chance, die freien Zeitfenster wieder sinnvoll zu füllen, sei es durch das Erlernen eines Instruments oder das Singen und Spielen in einem Chor oder Ensemble. Aufgrund des demografischen Wandels wächst insbesondere die Kundengruppe der sogenannten Best-Agers, der fitten und mobilen 50- bis 75-Jährigen und stellt auch die Musikschulen und ihre Lehrkräfte vor neue Herausforderungen.
Da wäre zunächst die Herausforderung, möglicherweise das Selbstverständnis und die Ziele der Musikschule neu zu definieren. Der Großteil der Musikschülerinnen und -schüler sind Kinder und Jugendliche. Musikalische Breitenbildung und Spitzenförderung für diese Altersgruppe gehören zum satzungsmäßig verankerten Konzept öffentlicher Musikschulen. In der Diskussion unter Lehrkräften und Verantwortlichen hört man immer auch Stimmen, die Musikschulangebote für ältere Menschen zumindest für zweitrangig halten. Wichtig sei vielmehr, in Zeiten von begrenzten Ressourcen im Personalbereich der Musikschulen die Jugend im Sinne einer Investition in die Zukunft noch stärker und elternhausunabhängiger zu fördern. Dagegen halten kann man, dass die Gesellschaft der Zukunft auf den Generationenzusammenhalt angewiesen ist und diesen in allen Bereichen der Gesellschaft im Sinne der Daseinsvorsorge etablieren muss. Dies entspräche auch dem Grundgedanken der Inklusion, der die Heterogenität von (Musizier-)Gruppen in Bezug auf Alter, Herkunft, Motivation und Fähigkeiten als Lernchance für alle Beteiligten begreift. Der Bereich der sogenannten Musikgeragogik füllt also nicht nur eine Marktlücke, sondern kann einen konzeptionellen Beitrag zur Lebensbewältigung aller Menschen in alternden Gesellschaften leisten.
Lebensqualität verbessern
Der Begriff Happy-Aging – als Variante von Anti-Aging – wird hauptsächlich im Marketing von medizinischen, ernährungsbezogenen und kosmetischen Produkten verwendet. Angebot von und Nachfrage nach Artikeln, die (angeblich) das Älterwerden verzögern und ein jugendliches Lebensgefühl möglichst lange erhalten, sind groß. Sich alt fühlen oder alt aussehen ist „out“. Der Prozess des Älterwerdens lässt sich jedoch nicht verhindern, und so sollte es vielmehr darum gehen, das körperliche, geistige, soziale und seelische Wohlbefinden möglichst lange aufrechtzuerhalten. Musikpädagogische Angebote können hier ein Weg sein, in Krisensituationen zu unterstützen, die Lebensqualität im Alter zu erhalten oder zu steigern und so ein zufriedenes und glückliches Älterwerden zu unterstützen: In meiner Arbeit als Instrumentalpädagogin konnte ich erleben, wie vor einigen Jahren eine Dame nach dem Verlust ihres Mannes mit dem Querflötenunterricht begann. Die intensive Beschäftigung mit dem neuen Instrument gibt ihr nach eigener Aussage das Gefühl, ihrem Mann, der sehr gerne Musik machte, nahe zu sein. Inzwischen spielt sie mit 70 Jahren neben dem Instrumentalunterricht regelmäßig in mehreren Ensembles und Kammermusikgruppen und hat trotz zunächst großer Nervosität mittlerweile sehr erfolgreich etliche Auftritte gemeistert. Die hinzugewonnenen Sozialkontakte und das gestärkte Selbstvertrauen bereichern ihr Leben sichtlich.
Der Unterricht mit Menschen höheren Lebensalters birgt dabei auch spezifische didaktische Besonderheiten. Seitens der Lehrkraft gilt es, eine wertschätzende Grundhaltung gegenüber den Teilnehmenden zu pflegen, Respekt vor deren Biografie und Lebensleistung sowie Toleranz gegenüber anderen musikalischen Präferenzen als den eigenen zu entwickeln. Ebenso erforderlich ist das Wissen über altersbedingte Veränderungen im Wahrnehmen, Erleben und Verhalten sowie die Bereitschaft, über Inhalte und Methoden zu kommunizieren und zu verhandeln. Denn im Mittelpunkt stehen nicht abstrakte Leistungsvorgaben oder Lehrpläne, sondern die Entwicklung der persönlichen musikalischen Kompetenzen und Interessen der Lernenden. Hierbei ist wichtig, dass im Unterricht und auf der Bühne Inszenierung und Klangergebnis ansprechend und bedeutsam, gleichzeitig aber vom spiel- oder gesangstechnischen Niveau gut zu bewältigen sind. Für den Unterricht flexibel gestaltbare Unterrichtsmaterialien, Stücke und Arrangements müssen gegebenenfalls gefunden oder erstellt werden. Dies gilt insbesondere für den Einsatz in heterogenen oder altersgemischten Gruppen. Die Musikschulen sollten ihren Lehrkräften in diesem Bereich bei Bedarf auch entsprechende Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten eröffnen.
Flexible Unterrichtsformate
Auch die Rahmenbedingungen des Musikschulangebotes müssen unter Umständen angepasst werden. Dies reicht von der Barrierefreiheit der Unterrichtsräume im Musikschulgebäude bis hin zu Angeboten, die die Musikschule in Senioreneinrichtungen, Stadtteilzentren oder Generationenhäusern macht. Kooperationen mit anderen Kulturträgern und Bildungsinstitutionen sind für die meisten Musikschulen bereits selbstverständlich und könnten nun auch in diese Richtung ausgeweitet werden. Interessant sind auch offene und niederschwellige Angebote, zum Beispiel Musizierstunden mit freier Teilnahmemöglichkeit von Woche zu Woche, die über eine sogenannte Flexikarte abgerechnet werden. Ideal wären kostenfreie beziehungsweise sponsorengestützte Angebote, die Menschen mit geringer Rente nicht ausschließen.
Neben dem Unterricht im Instrument oder in Gesang und den entsprechenden Ensemblemöglichkeiten sollten auch noch mehr Angebote im Bereich des Elementaren Musizierens eingerichtet werden, die eine aktive Beschäftigung mit Musik ohne spezielle Instrumentalkenntnisse ermöglichen. Hier werden gemeinsames Singen, Bewegen und Tanzen, angeleitetes Musikhören und Musizieren auf elementaren Instrumenten praktiziert. Auch gemeinsame Konzertbesuche und Aufführungen sind attraktive Angebote. Betrachtet man den eingangs erwähnten Beitrag zur Daseinsvorsorge, stehen vor allem die Entwicklung und der Ausbau intergenerativer Ansätze und Projekte an.