Das Problem ist spätestens seit PISA und verschiedenen populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen in Focus, Die Zeit und Spiegel einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, die Erziehungswissenschaft jedoch tut sich mit dem Thema nach wie vor schwer: Die Rede ist vom dramatischen Abstieg der Jungen in Schulen. Während sich eine seit den 1980er-Jahren inzwischen personell erfreulich gut ausgestattete Gender-Forschung eigentlich auf das Thema stürzen und rufen müsste: „Wir haben es immer gesagt, Gender ist ein entscheidender Faktor im Erziehungsgeschehen“, bleibt es erstaunlicherweise um das Thema merkwürdig still, nicht nur, aber eben auch in der Musikpädagogik.
Der Grund liegt auf der Hand. Eine Benachteiligung von Jungen ist eigentlich gar nicht vorgesehen. Sie widerspricht geradezu fundamental den Annahmen der Gender-Forschung der letzten Jahrzehnte. Ging man einerseits davon aus, dass alle Geschlechterunterschiede Ergebnis von Sozialisation seien, im Prinzip also jeder und jede auf jedes Geschlecht zu erziehen sei, so bedauerte man gleichzeitig, dass sich in der Praxis immer die falschen, sozial vermittelten Geschlechterrollen fortpflanzten: Schule stellte sich als das Biotop dar, in der die universelle Repression des Weiblichen durch das Männliche schon früh (oft unmerklich) perpetuiert wurde. Mit fatalen Folgen für die Gesellschaft als Ganzes. All die akademischen Gender-Awareness-Operationen waren da ein Tropfen auf den heißen Stein. Und dann noch das: Die empirischen Daten zu „Jungen in Schule“ sprechen wiederum eine ganz andere Sprache: Jungen auf dem Abstellgleis?
Genau bei dieser Diskrepanz zwischen Theorie und Empirie setzt die neue Studie an. Sie hinterfragt das Gleichheitsparadigma der Aufklärung im Sinne einer Gleichheit aller in der (Musik-)Pädagogik und plädiert schonend für eine Wiederentdeckung der Differenz. Diese Gleichheit nämlich sei theoretisch viel zu wenig reflektiert worden. Die neuen Disziplinen der Soziobiologie, die in den USA heiß diskutierte Evolutionspsychologie, aber auch psychoanalytischen Traditionen in der (Musik-)Pädagogik, sprächen gegen die Annahme der Gleichheit von Jungen und Mädchen, Männern und Frauen. Das gesamte evolutionäre, Millionen Jahre alte Erbe von Männern und Frauen mit ihren unterschiedlichen reproduktiven Strategien sei eindeutig anders zu erklären, als ein mehr oder weniger willkürlich anerzogener Unterschied. Im Gegenteil: Emotionen, soziales Verhalten, Motorik, Phantasien, eventuell auch Kognition seien Ergebnis langer evolutionärer Prozesse, die Schule nicht einfach ignorieren könne. Schlimmer noch: Schule ignoriere Geschlechter-Unterschiede auch gar nicht, sondern tendiere im Gegenteil dazu, weibliches Sozialverhalten, Emotionalität, Motorik et cetera zur Norm zu erheben, und Jungen demgegenüber als abweichend, defizitär und störend zu brandmarken. Dem werden wohl auch viele Musiklehrer und Musiklehrerinnen, aber auch Väter und Mütter zustimmen können: „Jungen sind einfach viel, viel anstrengender!“
Die Studie sieht das Problem denn auch weniger bei der Klientel als vielmehr bei der Institution: Nicht „Jungenschule auch für Mädchen“ sei das Problem, wie Hurrelmann in den 1980er-Jahren vorwurfsvoll die Koedukation resümiert hatte, sondern „Mädchenschule auch für Jungen“ sei pädagogische Praxis und schade letzteren. Nicht Jungen hätten ein Problem mit Schule, Schule habe ein Problem mit Jungen. Starker Tobak, auch politisch, für eine tonangebende pädagogische Klasse, die sich gerade erst vom Scheitern sozialer Großerzählungen anderswo erholt und in der Gender-Nische einen Unterschlupf erhofft hatte.
So gesehen gehören dann aber nicht die Jungen, sondern die Koedukation auf den Prüfstand, denn sie misst möglicherweise, so die Forschungshypothese, Jungen an weiblichen Maßstäben und wundert sich, wenn die Jungen jenen Maßstäben nicht entsprechen. Schlimmer, sie verbaut ihnen dadurch entscheidende Lebens-chancen. In der Tat werden Jungen später eingeschult, seltener auf das Gymnasium empfohlen, stellen auf Haupt- und Sonderschulen eine klare Zweidrittel-Mehrheit, wechseln häufiger den Schultyp „nach unten“, bleiben häufiger sitzen, erhalten für gleiche Leistungen schlechtere Noten, machen seltener Abitur, und studieren inzwischen sogar seltener.
Das balanciert auch ein (schwindender) Vorsprung bei den vielfach beschworenen W3-Professuren nicht aus, zumal solche Verrechnungsoperationen für die einzelne Biografie immer etwas leicht Zynisches an sich haben. Jungen aber sind vor allem in der Pubertät in ihrer körperlichen und psychosozialen Entwicklung nachgewiesenermaßen zwei Jahre dezeleriert, sie spielen noch mit Fischertechnik und Rennautos, während sich die Mädchen schon schminken und mit den Jungs der höheren Klassen abends ausgehen (oder zumindest davon träumen). Diese beiden nun in der Mittelstufe in einen Klassenverband zu stecken, erfüllt die klassische Definition von Ungerechtigkeit: Man behandelt Ungleiche gleich! Schule tut gut daran, von der These Abschied zu nehmen, ein gleiches Geburtsjahr von Jungen und Mädchen bedeute entwicklungspsychologische Gleichheit, vielmehr hat sie biologische Unterschiede zu achten, die für das Denken, Erleben und Handeln der ihr per Schulpflicht anvertrauten Klientel zentral sind.
Mädchen und Jungen trennen?
Dass es nun aber sinnvoll ist, Jungen und Mädchen in dieser hormonintensiven Phase der Pubertät zu trennen, ihnen pädagogische Schonräume zu verschaffen, in denen nicht jedes Nicht-Wissen gegenüber dem Lehrer oder der Lehrerin die Schmach einer narzisstischen Kränkung hat, sondern anspornt, an der eigenen (musikalischen) Biografie zu basteln, nun, das lässt sich leicht behaupten. Genau so wie es sich gut behaupten lässt, das Leben sei nun einmal voll von zwischengeschlechtlichen Beziehungen der verschiedensten Art und auf dieses Leben habe Schule schließlich vorzubereiten. Was aber stimmt? Besser trennen oder lieber zusammenlassen?
Beides tun und dann hinterher vergleichen, antwortet hier ernsthafte musikpädagogische Forschung, und es verwundert, dass über Koedukation bisher so viel spekuliert, kaum jedoch empirisch geforscht wurde. Über drei Jahre wurden deshalb an einer Schule am Fuße des Vogelsbergs, der 1976 gegründeten kooperativen Gesamtschule Konradsdorf, ansonsten identische Klassen der Jahrgangsstufe acht bis zehn des Realschulzweigs entweder als Jungen-, als Mädchen-, oder als Gemischtklasse unterrichtet. Es handelte sich um eine normale Schule, die Basisdiagnostik ergab keine soziometrischen Auffälligkeiten im Vergleich der drei Klassen, der Ausländeranteil lag unter fünf Prozent, was als sensible Variable in der Geschlechterproblematik nicht zu unterschätzen ist.
Die Reaktionen der solchermaßen getrennten Schüler waren anfangs unterschiedlich: Die Mädchen waren mehrheitlich begeistert, der work-flow stieg erkennbar; die Jungen, mehrheitlich bockig, fühlten sich offensichtlich (wieder einmal?) durch Gender-Überlegungen abgehängt. Nur die Gemischtklasse arbeitete wie bisher. Insgesamt wurden sieben Unterrichtseinheiten zu den Themen Musik und Bewegung, Stimme, Gitarre, Schlagzeug, Moderne Musik, Oper und Jazz als treatment durch denselben, männlichen, anfangs 35 Jahre alten Lehrer verabreicht. Der Unterricht wurde vor allem handlungsorientiert, quasi als Gruppeninstrumental- und -gesangsunterricht durchgeführt. Die Schüler-, die Schülerinnen- und die Schüler/-innen-Klasse sang, tanzte, spielte Gitarre und Schlagzeug, hörte zu und malte zur Musik.
Wie aber sollte man nun messen, was es für Unterschiede im Lernen gab? Da bot sich zuerst natürlich die gute alte Klassenarbeit an. Halbjährlich durchgeführt, könnte sie statistisch mit den Klassenarbeiten aus den anderen Klassen verglichen werden. Einwand: Klassenarbeiten testen vor allem, was Klassenarbeiten eben testen, die Wiedergabe von kognitiven, eventuell gehörmäßigen Fakten, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Deshalb wurden daneben noch Instrumental- und Gesangsvorspiele jedes Schülers und jeder Schülerin einzeln aufgenommen und einem Expertenranking unterzogen, desgleichen Gruppentanzaufführungen, zweimaliges Malen zur Musik und eine Gruppenimprovisation zum Thema Cool Jazz. Außerdem wurden vor Beginn und nach Ende der Studie ein Musikalitätstest (Jungbluth), ein Persönlichkeitstest (MPT-J) und ein Fragebogen zu Musikpräferenz, Soziometrischem, und verschiedenen inner- und außerschulischen Variablen ausgefüllt.
Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen
Das Ergebnis ist eindeutig: Je freier, weniger prästrukturiert die Aufgabenstellung, je mehr also Erkundungs- und Bewährungscharakter im Vordergrund standen, desto mehr profitierten die Jungen insgesamt, vor allem aber die Jungen in den getrennten Klassen davon. Beginnen wir bei den Klassenarbeiten: Die reproduktiven Teile zeigen die geringsten eindeutigen Abweichungen. Anders ausgedrückt: Dass Mozart 1791 in Wien starb, oder eine Quinte fünf Töne umfasst, lernt ein Junge mit Mädchen so gut wie ohne Mädchen. Bei den Gehörbildungsaufgaben gilt das schon nicht mehr. Leichte ein- und zweistimmige Gehördiktate gelingen beiden Geschlechtern besser in getrennten Settings. Noch stärker ist der Effekt bei den Instrumental- und Gesangsvorspielen und beim Musikalitätstest, hier schafft die Trennung offensichtlich soziale, emotionale und motorische Freiräume, die beide Geschlechter nutzen können, so jedenfalls das Expertenranking. Dieser Vorteil kippt interessanterweise bei der offensten Aufgabe, dem freien Malen zur Musik, in diesem Fall zur Oper „Carmen“ von George Bizet. Während hier die Jungen am stärksten von der Trennung profitieren, fallen die segregierten Mädchen hinter die Gemischtklassenmädchen zurück. Die ganze reine Mädchenklasse hatte offensichtlich voneinander abgemalt, niemand traute sich eine eigene visuelle Version von Bizets Meisterwerk zu. Wirkt hier ein starker Konformitätsimperativ unter jungen Frauen, den die jungen Helden in Not so nicht kennen? Hemmt die koedukative Schule diesen explorativen Geist, den die Gesellschaft und die Arbeitswelt so dringend braucht, und auch honoriert?
Ein weiterer ambivalenter Befund der Studie: Segregation erhöht erkennbar die Extremwerte in Klassen. Während gemischte Klassen zur Nivellierung um einen Mittelwert neigten, tauchten sowohl Überflieger wie auch drop-outs in den getrennten Klassen vermehrt auf. Das wäre auch bildungspolitisch ein heikler Befund. Mögliche Eliteförderung durch Segregation unter Inkaufnahme eines wachsenden Prekariats?
Der Grundtenor der Studie ist hingegen optimistisch. Durch eine Trennung in der schwierigen Pubertät lassen sich sowohl Jungen als auch Mädchen erfolgreicher (und angenehmer) unterrichten, auch die Einschätzung der Jungen war nach drei Jahren und in einer Nacherhebung, nochmals drei Jahre nach Schluss des treatments, nicht mehr ablehnend: „Man kann der Stimme unter Männern freieren Lauf lassen“ wurde resümiert, und „man traud sich mer zu“ (in originaler Orthografie) waren gängige Kommentare. Die Mädchen waren sich nach drei Jahren nicht mehr so sicher, hier störten „die Zickereien“ oder es „war egal“. Verhaltener Tenor „Wir wollen endlich unsere Jungs zurück!“
Fazit: In einem Fach mit einem hohen emotionalen und sozialen Anteil wie Musik scheint es sinnvoll, während der „ungleichzeitigen Gleichzeitigkeit“ der Pubertät von Jungen und Mädchen (je nach Schulform ist das die 6. bis 10. Klasse) die Koedukation aufzuheben zugunsten eines getrennten Settings, das den Jungen eine Atempause verschafft gegenüber den akzelerierenden Mädchen, ohne jedoch die Mädchen zu benachteiligen.
Literaturhinweis
Meier, Markus (2008): Musikunterricht als Koedukation? Eine dreijährige Longitudinalstudie an einer ländlichen hessischen Gesamtschule. Göttingen: Cuvillier