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Eine unkonventionelle Anregung für eine allen zugängliche CM-Improvisation bildet das musikalische Sprechstück „Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee“ (1968) von Joseph Beuys (im Geist sozialer Kunst verwandt mit Lee Higgins)Eine unkonventionelle Anregung für eine allen zugängliche CM-Improvisation bildet das musikalische Sprechstück „Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee“ (1968) von Joseph Beuys (im Geist sozialer Kunst verwandt mit Lee Higgins)

Eine unkonventionelle Anregung für eine allen zugängliche CM-Improvisation bildet das musikalische Sprechstück „Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee“ (1968) von Joseph Beuys (im Geist sozialer Kunst verwandt mit Lee Higgins)

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Lee Higgins meets Joseph Beuys

Untertitel
Praxis Community Music: Ja zum Anderen! · Ein Impuls von Wolfgang Rüdiger
Vorspann / Teaser

Ja zueinander sagen und Freude miteinander teilen im Medium der Musik – solches Welcome im Klang ist nach Lee Higgins das zentrale Merkmal von Community Music (CM) als Akt der Gastfreundschaft und Angebot zu einem offenen kreativen Musizieren, bei dem die Stimmen aller wertgeschätzt werden und andere Stimmen wichtiger sind als die eigene (im Sinne von Levinas‘ „Humanismus des anderen Menschen“). Ein einfühlsames Miteinander lässt sich musikalisch auf vielfältige Weise realisieren, in achtsam praktizierter Kammermusik ebenso wie im Community Singing, mit Raps und Rockmusik wie mit experimentellen Konzepten neuer Musik. 

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Eine unkonventionelle Anregung für eine allen zugängliche CM-Improvisation bildet das musikalische Sprechstück „Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee“ (1968) von Joseph Beuys (im Geist sozialer Kunst verwandt mit Lee Higgins). Das gut einstündige Tonband-Stück (CD Joseph Beuys Medien-Archiv 2001) handelt im Wortsinn vom Ja-Sagen, verbunden mit dem scheinbar antithetischen Nein. Es besteht aus nichts anderem als einem repetitiven Singsang der Silben „Ja“ und „Nee“, die Joseph Beuys meist jeweils fünfmal in rheinischem Dialekt wiederholt, jedes Mal anders und auf heitere und höchst musikalische Weise expressiv: rhythmisch organisiert, anfangs mit leichter elastischer Dehnung auf der ersten Silbe, gefolgt von vier Nachzügler-Jas in abfallender Tonhöhe, von kleinen Lachern begleitet, später in wechselnden Stimmlagen, unterschiedlicher Dauer und Dynamik, Rhythmen und Tempi, Klangfärbungen und Ausdrucksnuancen sowie Alltagsklängen im Hintergrund. Kein einziges Ja und keine Ja-Reihung, kein Nee und keine Nee-Wiederholung sind musikalisch gleich, so wie kein Blatt, kein Stein, kein Mensch dem anderen gleicht, ein Spiegel des im steten Wandel begriffenen Lebens und der unendlichen Verschiedenheit von Menschen und Dingen.

Bildet Ja- und Neinsagen ein Grundmodell menschlicher Kommunikation in Alltag und Kunst, Politik und Gesellschaft – jede Demokratie lebt davon –, so lässt sich Beuys‘ frei assoziierender Solo-Singsang in das reale dialogische Gespräch verwandeln, dem jedes Ja-Nein entstammt, so wie sich im letzten Viertel der Tonband-Aufnahme vermehrt Stimmen anderer einmischen und zu einer lustvollen Polyphonie von Lebens- und Lautäußerungen verflechten.

Das potenzielle Nein

Und da dem grundsätzlichen Ja zu anderen Menschen, zu sich, zum Dasein als Mitsein stets ein potenzielles Nein beigesellt ist, ein Nicht-vollends-Übereinstimmen mit sich selbst, mit anderen und der Welt, Politik und Gesellschaft, und Ja und Nein nicht nur sozial und kulturell (als Aushalten und Pflegen von Differenzen), sondern auch sprachlogisch, existenziell, spirituell aufeinander bezogen sind (siehe die Bergpredigt, das Prinzip von Yin und Yang u.v.a.), kann Beuys‘ Sprechstück bestens in Community Music umgesetzt werden, die nach Higgins mitnichten ein „flauschiges Alle-lieb-Haben“ bedeutet, sondern auch von Widerstand, Widerspruch und Nein zu Unrecht, Konflikt, Krieg zeugen kann. Alle können hier mitmachen und den persönlichen und politischen Facettenreichtum von „Ja Ja … Nee Nee“ zum Ausdruck bringen, auch in anderen Mutter-Sprachen, einer Zweit- und Drittsprache und weiteren Dialekten. 

Skepsis, was die Umsetzung betrifft? Nicht nötig, einfach machen, das Konzept hat sich mehrfach bewährt, zur Freude aller Beteiligten, die gar nicht mehr aufhören konnten, mit der Musik von Ja-Nee, Yes-No, Oui-Non, Si-No, Tak-Nie, Tak-Ni, Da-Net, Hai-ie oder Ye-Anio miteinander Kontakt aufzunehmen, aufeinander zuzugehen und sich musikalisch zu verbinden. Hier einige Tipps zum Vorgehen:

„Ja-Nee“ für Community Voice nach Beuys, so könnte man das Modell nennen, eignet sich für zirka 5 bis 50 und mehr Mitwirkende, je nach Größe des Raums. Alle sind im Raum verteilt, zum Beispiel beim Ankommen oder nach einer Pause. Die Person, die die Aktion anregt (der Facilitator), geht entspannt durch den Raum und wendet sich mit gestisch einladendem Sprechgesang à la Beuys‘ „Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee“ einzelnen Teilnehmenden und Kleingruppen zu. Eine Alternative besteht darin, dass zu Beginn die Beuys-Aufnahme kommentarlos aufgelegt wird und der Facilitator sich wie beschrieben dazu gesellt (die CD kann nach einer halben bis einer Minute ausgeblendet werden oder leise im Hintergrund weiterlaufen). 

Verschiedene Dialoggruppen

Mit Klang, Blick und Bewegung werden die Teilnehmenden ermuntert, stimmlich mitzumachen, mit eigenen „Ja-Nee“-Artikulationen einzustimmen und gemeinsam eine Vielstimmigkeit musikalisch-gestischer Rede zu erzeugen. Dem Vorbild des Facilitators folgend, sind alle in Bewegung (oder auch nicht), wobei es wichtig ist, dass immer wieder Pausen eingelegt werden und die Mitspielenden einander zuhören. Auch können sich verschiedene Dialoggruppen bilden, die nach einer Weile wieder auseinandergehen und zu neuen Interaktions-Duos, -Trios, -Quartetten et cetera formieren. Dabei kann vieles geschehen:

  • Alle legen mit Verve los, sodass ein kaum durchhörbares Stimmengewirr entsteht (die distinkte „Ja-Nee“-Welt gerät gewissermaßen aus den Fugen), das sich irgendwann von selbst wieder ausdünnt. 
  • Einige erregen sich, äußern lauthals oder leise Zustimmung oder Protest, flüstern oder schreien und unterstützen dies mit exaltierten Gesten und Gesichtsausdrücken. 
  • Andere reagieren mit einem gelassenen oder bekräftigenden „Ja“ und „Nee“ auf existierende Ansprüche, das „Ja“ als Annehmen, das „Nee“ als Abwehren bis Verbieten oder als gechilltes Abwinken bis Verweigern im Sinne von Bartlebys „Ich möchte lieber nicht“. 
  • Wieder andere gehen einzeln aufeinander zu und antworten einander, in ganz verschiedenen, bewusst floskelhaften oder kreativen Formen.
  • Es ergeben sich Pausen, Stille kehrt ein – oder es erwächst aus dem Abebben und Leiser Werden plötzlich ein intimes Zwiegespräch, dem alle lauschen, gegebenenfalls mitmurmelnd. Alles ist möglich, die ganze Welt menschlicher Laut- und Lebensäußerungen kann hier gemeinschaftlich tönende Formen annehmen – bis hin zum Übergang vom Sprechen ins Singen eines gemeinsamen (Schluss-)Klangs, der sich von selbst ergibt (wie auf einem Workshop in Würzburg geschehen), sei es ein Cluster, ein Akkord oder ein gemeinsamer Ton, auf dem sich alle treffen, der anschwillt und verklingt oder in etwas anderes übergeht, den Geist wach macht und befreit und Menschen verbindet.
  • Eine Alternative besteht darin, dass das „Ja-Nee“-Event auf Zeichen mit einem gemeinsamen „Ja!“ endet (wie in einem partizipativen Open-Air-Konzert des Ensemble Aventure) – eine Art Öffnung, die ebenso mit einem finalen „Nee!“ gegeben wäre, das je nach Kontext auch möglich ist (was vorher abgesprochen werden sollte).

Beuys’ Erlebnis

Wer will, kann in der Gruppe den biografischen Hintergrund der Entstehung des Sprechstücks thematisieren (Beuys’ Erlebnis eines pausenlosen „Sermon“ bei einem Begräbnisessen, Ausweis auch mancher „Akademieereignisse“) und die weit über ein „Omma-Gespräch“ hinausreichende Bedeutungsvielfalt der Grundworte Ja und Nein erörtern (Johannes Stüttgen im CD-Booklet): „Dass im Ja und Nein alle Dinge bestehen“ (Jakob Böhme), die Bergpredigt ein klares Ja oder Nein der Rede einfordert (Matthäus 5, 37) und Nietzsche ein großes Ja zum Leben sagt: „an sich redet Alles, was ist, das Ja“.

Sich Einlassen auf andere

Und da Dasein immer Mitsein ist, kann es für Menschen nur ein grundsätzliches Ja zum Anderen geben; und auch wenn man ein Ja als Ja nur wahrnimmt, weil es ein Nein gibt, das in ihm mitschwingt und durchscheint (und umgekehrt), so folgt aus dem grundsätzlichen Ja als sich Einlassen auf andere und anderes ein originärer Vorrang des „Ja vor dem Ja und Nein“ (B. Waldenfels: Schattenrisse der Moral, 2006, S. 51) – ganz im Sinne von Community Music, als deren Schlüsselwort Lee Higgins das willkommen heißende „Ja!“ (ohne das Nein zu verleugnen) identifiziert, das Merkmale wie Sicherheit, Gehör finden, Mitgestalten, gemeinsam Kreativsein, Zufrieden sein einschließt.

Dies alles zeigt, welche kulturgeschichtlichen Deutungs- und Handlungsspielräume sich hier auftun und für die Praxis der CM genutzt werden können – bis hin zur „Hingabe an einen gebeutelten, erlösungsbedürftigen Geist, den Geist einer Landschaft und ihres Sprachklanges, der hier freigesungen werden sollte“ (Johannes Stüttgen) und, je nach Kontext, auch aus anderen Worten, Silben, Klängen bestehen kann. 

Unendlich sind die Möglichkeiten kreativen Umgangs mit Sprache und Wörtern, die klingen, in der Community Music. 

  • Vgl. auch Lee Higgins: Rethinking Community in Community Music: The Call, the Welcome, and the „Yes“, in: Rethinking Community through Transdisciplinary Research, hrsg. von B. Jansen, London etc. (Palgrave MacMillan) 2020, S. 231–246

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