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Trotz vielfältiger Einschränkungen dürfen Menschen mit Demenz nicht vom Kulturleben ausgeschlossen werden, fordert Kai Koch. Foto: Pat Christ
Trotz vielfältiger Einschränkungen dürfen Menschen mit Demenz nicht vom Kulturleben ausgeschlossen werden, fordert Kai Koch. Foto: Pat Christ
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Manchmal steht einer auf und tanzt

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Kai Koch von der Universität Vechta zeigt Möglichkeiten von Musik für Menschen mit Demenz auf
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Rund zwei Prozent der Deutschen leiden aktuell unter einer Demenzerkrankung – Tendenz steigend. Bisher wurden diese Menschen vom Kulturleben weitgehend ausgeschlossen. Dass sich das ändert, dafür engagiert sich Kai Koch, Professor für Musikpädagogik an der Universität Vechta. Erste Ansätze gibt es schon. So werden immer mehr Konzerte explizit für Menschen mit Demenz angeboten. In den vergangenen Monaten analysierte der 33-Jährige, was hierzulande inzwischen alles existiert.

Ob ein Konzert unter „Demenzkonzert“ firmieren kann, ist eine Frage der Organisation und mehr noch der Haltung. „Das Wichtigste ist, vor dem Thema ‚Demenz‘ keine Angst zu haben“, sagt Koch, der gerade zusammen mit Bernd Reuschenbach, Experte für gerontologische Pflegewissenschaft, ein Buch zu „Demenzkonzerten“ vorbereitet. In dem Werk, das bei Kohlhammer erscheinen soll, werden verschiedene Formate von Demenzkonzerten dargestellt. Unter anderem geht Koch auf die Pionierarbeit der Musikwissenschaftlerin Elisabeth von Leliwa ein. Bereits 2012 startete das von ihr mitentwickelte Konzertprogramm „Auf Flügeln der Musik“ für Menschen mit Demenz.

Gelassenheit ist gefragt

Es gehört ein gewisses Quantum Gelassenheit dazu, Konzerte für demenziell veränderte Musikliebhaber durchzuführen. „Man muss sich situativ anpassen können“, so Koch. Denn bei einem solchen Konzert kann eine Menge passieren. Vielleicht steht ein betagter Zuhörer plötzlich auf und wiegt sich im Takt. Oder es wird hineingeklatscht. Darauf sollten Musiker vorbereitet sein. Stilistisch und strukturell sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Demenzkonzerte reichen nach Kochs Analysen vom Probenbesuch, der für demenziell veränderte Senioren geöffnet wird, bis hin zum Klassikkonzert im großen Saal.

Noch gibt es einen großen Nachholbedarf in Sachen „Kultureller Teilhabe bei Demenz“, konstatiert Koch. Vor allem fehlt das Bewusstsein, dass es sich bei den Betroffenen oft um Menschen handelt, die den örtlichen Kulturinstitutionen jahre- und jahrzehntelang die Treue gehalten haben. Diese Menschen dürfen im Falle einer Demenz nicht exkludiert werden, so der Musikgeragoge: „Konzerthäuser haben schließlich auch einen gesellschaftlichen Auftrag.“ Natürlich kann nicht vorausgesetzt werden, dass in den Institutionen umfassendes Wissen über Demenz existiert. Deshalb sei es sinnvoll, bei der Organisation von Demenzkonzerten mit der Altenhilfe zusammenzuarbeiten. Aktuell ist das Kulturschaffen streng reglementiert, gleichzeitig wurden die Kontakte zu alten Menschen im Heim drastisch reduziert. In einem neuen Forschungsprojekt möchte Koch der Frage nachgehen, wie kulturelle Teilhabe in Corona-Zeiten gelingen kann. Dieses Thema greift er zusammen mit Theo Hartogh, Experte für Musizieren im Alter, auf. Hartogh ist seit 2005 Professor für Musikpädagogik und his­torische Musikwissenschaft an der Uni Vechta. Bei dem neuen Projekt, für das Koch gerade Mittel beantragt, soll es auch, aber nicht nur um digitale Formate gehen: „Auch Fensterkonzerte können helfen, Isolation aufzubrechen.“

Seniorenchöre als Chance

Alte Menschen möchten nicht nur Musik aus dem Radio konsumieren. Sie wollen sie live erleben und sie möchten aktiv musizieren. Dies erfährt Koch seit Jahren. „Ich begleite die Gründung von Seniorenchören“, erzählt er. Senioren, so seine Erfahrung, schätzen es zunehmend, mit Menschen ihres Alters zu singen: „Sie wollen nicht einfach im Kirchenchor mitmachen.“ So gründete sich Anfang 2019 in Landau eine eigene Seniorenkantorei: „Schon zur ersten Probe kamen 70 Interessierte.“ Vorletztes Jahr im Advent präsentierten die betagten Sänger Händels „Messiah“.

Je nachdem, ob Senioren beim jeweiligen Chorleiter einen hohen Stellenwert haben oder nicht, bleiben sie bei der Stange. Oder springen ab. Mit der Frage, wie man einen Chor speziell für Ältere gut leiten kann, befasst sich Koch seit langem. 2019 veröffentlichte er eine „Praxis der Seniorenchorleitung“. Dabei geht Koch auf verschiedene Stimmbildungskonzepte für Seniorenchöre ein. Als gewinnbringend sieht er die Einbeziehung von Bewegungen und Körperübungen bei der Stimmbildung von Sängern in der dritten Lebensphase an.

„Situativität“ als Kompetenz

Wichtig sei jedoch in erster Linie die Überzeugung, dass Stimmbildung auch im Alter positive Effekte haben kann. Hier gibt es Koch zufolge noch viele Vorurteile. „Wünschenswert sind zielgerichtete Übungen, die authentisch von der Chorleitung vermittelt werden“, erläutert er. Beachtet werden müsse, dass die Tagesform der Singenden wechseln kann, was die Proben beeinflusst. Parallel zu den Demenzkonzerten gilt auch bei der Leitung von Seniorenchören: Es braucht „Situativität“ als Kompetenz.

Keinesfalls darf bis zur totalen Erschöpfung der Sänger geprobt werden – was natürlich für jede Art von Probenarbeit gilt. Wobei ältere Sänger schneller stimmlich erschöpfen. Um Stress zu reduzieren, sollte auf gutes Notenmaterial geachtet werden. Großdruck ist laut Koch ebenso von Vorteil wie mattes, nichtspiegelndes Papier. Auch Barrierefreiheit ist ein wichtiges Thema bei der Arbeit mit Senioren. So sollten Bodenbeläge kein Hindernis für Rollatoren bieten. Dies gilt nicht nur für Proben von Seniorenchören, sondern genauso für die Organisation von Konzerten für Menschen mit Demenz.

Ein Knackpunt kann die Finanzierung sein. Auch dies gilt für alle Bereiche der Musikgeragogik: Also für Seniorenchöre, für Demenzkonzerte und für die kontaktlose Kulturvermittlung in Corona-Zeiten. Manchmal können Stiftungen als Partner gewonnen werden, so Koch. Außerdem finden sich über die Initiative des Chorverbands NRW „Sing mit – bleib fit“ Ansprechpartner mit viel Expertise, was die Finanzierung von Seniorenchören anbelangt.

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