Wie kann musikalischer Fortschritt gemessen werden? Welche messbaren Kriterien hat musikalisches Üben? Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit ein Stück „fertig“ geübt ist? Wieviel Zeit braucht man, um ein Musikstück einzustudieren? Wie kann Teamarbeit zum normalen Teil des Übens werden? Wie sieht ein Umfeld aus, das regelmäßiges Teamspiel ermöglicht? Und: Wie kann eine sinnvolle Kapazitätsplanung oder Übedokumentation aussehen?
Mit diesen und ähnlichen Fragen befasst sich ein neues ÜbeCurriculum namens „music moves“. Techniken aus der agilen Softwareentwicklung, sogenannte „agile Methoden“, werden dabei auf den Übealltag übertragen. Im Mittelpunkt steht das Training von Musikalität, Selbstorganisation und Teamspiel.
Kurze Arbeitszyklen
Agile Methoden stehen für einen Paradigmenwechsel in der Softwareentwicklung. Zu Beginn des Jahrtausends entstand die Notwendigkeit, herkömmliche Industrie-Prozesse umzustrukturieren. 2001 setzten sich in Utah 17 führende Köpfe aus der IT-Branche zusammen, um ihre Sichtweisen gemeinsam zu diskutieren. Dabei entstand das sogenannte „Agile Manifest“ mit vier Grundwerten und zwölf Prinzipen, die bis heute das Rückgrat der agilen Methoden bilden.1
Das Agile Manifest stellt den Menschen in den Mittelpunkt, indem es seine Ressourcen, aus Erfahrung zu lernen und kreativ Probleme zu lösen, als treibende Kraft für die Softwareproduktion einsetzt. Ziel der agilen Entwicklung ist eine schlanke, leichtgewichtige Arbeitsweise, um die Komplexität der Softwareentwicklung zu bewältigen, wobei der Erfolg an funktionierender Software gemessen wird.2 Der Fokus liegt darauf, innerhalb möglichst kurzer Arbeitszyklen so früh wie möglich auslieferbare Software zu produzieren.3 Diese kurzen Arbeitszyklen ermöglichen unmittelbare Rückmeldungen vom Endkunden, die dann wieder in die nächste Entwicklungsstufe der Software einfließen.
Die Grundwerte agiler Methoden können auch bei Musikerinnen und Musikern viel Potenzial freisetzen, wenn sie musikpädagogisch aufbereitet werden. Die Vorhersage, welche Arbeit in einer bestimmten Zeitspanne erledigt werden kann, gibt nicht nur dem Kunden eines Softwareproduktes Sicherheit, sondern auch Musikerinnen und Musikern, weil sie sich besser einzuschätzen wissen. Wiederkehrende Feedbackzyklen können nicht nur den Arbeitsprozess eines Produktes verbessern, sondern auch den Übeprozess eines Musikstücks. Teamarbeit und Austausch auf Augenhöhe mehr in den Mittelpunkt zu rücken, beendet die „Einzelhaft am Instrument“ und sorgt für kontinuierliche Weiterentwicklung des eigenen Übens.
Sich kleine Ziele zu stecken und sie abzuschließen, anstatt sich in der gleichen Zeit mit einem großen Ziel zwangsläufig oberflächlicher zu beschäftigen, kann bei der Erarbeitung eines Musikstückes ebenfalls „eins zu eins“ Anwendung finden. Die Konzentration auf Formteile oder Phrasen vertieft den musikalischen Bezug zu einer Stelle und ermöglicht, die Grenzen der eigenen Musikalität besser wahrzunehmen und zu erweitern.
Trainingsweg mit Tomaten
Teamspiel, Selbstorganisation und Musikalität zu verbessern, sind ehrenwerte Ziele. Aber wie kann man sie erreichen? Die Antwort, die music moves dafür gefunden hat, sind sogenannte „Trainingskarten“ fürs Üben. Sie können während des eigentlichen Übens integriert werden, sodass kein zusätzlicher Zeitaufwand entsteht. Auf der Karte wird nicht nur die Trainingsidee erklärt, die das Üben bereichern soll. Sie gibt auch klare Ziele vor und definiert ein sinnvolles Training, indem eine Anzahl an Wiederholungen empfohlen wird, bis die Idee verinnerlicht wurde.
Ein Beispiel für Einsteiger, die Selbstorganisation trainieren wollen, ist die Tomatentechnik von Francesco Cirillo.4 Es handelt sich hierbei um eine sehr flexible Zeitmanagementtechnik aus dem agilen Umfeld, die mit der natürlichen Konzentrationsspanne des menschlichen Gehirns arbeitet.5 Zeitscheiben geben dem Üben Struktur und ermöglichen kleingliedrige Fortschrittsmessungen. Für den Anfang haben sich 25-Minuten-Einheiten bewährt.
Die Trainingskarte „Aufdrehen – fertig – los“ beschreibt die Technik in ihren Grundzügen:
1. Formuliere zu Beginn einer Tomate ein exaktes Ziel und verschriftliche es am besten mit wenigen Sätzen!
2. Arbeite konzentriert ohne Dich ablenken zu lassen auf dieses Ziel hin, während ein Timer die Zeit herunterzählt!
3. Dokumentiere nach den 25 Minuten, was Du erreicht hast, und vergleiche es mit dem zuvor gesteckten Ziel!
4. Bevor Du die nächste „Tomate“ startest, folgt eine fünfminütige Pause.6
Die Tomatentechnik ist leicht skalierbar. Wenn ich weiß, was ich innerhalb einer „Tomate“ schaffen kann, können weitere Trainingskarten direkt anschließen. Mir Pläne zu machen und diese präzise zu dokumentieren, erhöht meine Wahrnehmung dafür, was sinnvollerweise innerhalb eines Tages oder einer Woche geschafft werden kann. Es macht meine Kapazität transparent und bewahrt mich davor, meine Erwartungshaltung meiner Übezeit gegenüber höher zu setzen als machbar. Außerdem bekomme ich mit der Zeit ein Gefühl dafür, wie lange ich brauche, um ein Musikstück zu erarbeiten und wie viele Tomaten bis zum nächs-ten Konzert mir bleiben. Diese beiden Maßeinheiten zu kombinieren, kann mich in meinem Zeitmanagement und meiner Selbstorganisation einen erheblichen Schritt weiterbringen.
Und hier schließt sich auch der Kreis zu einem wesentlichen Regelwerk der agilen Softwareentwicklung: „Scrum“. Der Begriff kommt ursprünglich aus dem Rugby und bedeutet übersetzt „Gemenge“. Er bezeichnet einen Spielzug, den man nur mit dem gesamten Rugbyteam bestreiten kann. Scrum stellt als sogenanntes Framework in der Softwareentwicklung einige Ereignisse, Werkzeuge und Regeln zur Verfügung, die genauso leicht auf jeden Lernprozess übertragbar sind. Pläne von einer Woche bis zu maximal einem Monat nennt man hier „Sprints“. Ein Sprint ist eine Zeitspanne, in der ein potenziell verkäufliches Inkrement, also etwas, was für den Endkunden funktioniert, hergestellt wird. Innerhalb eines Sprints gibt es drei Teamsitzungen, damit sich ein Team koordinieren kann. Am Anfang eines Sprints steht ein „Sprint Planning“ und am Ende eine „Sprint Review“ und eine „Sprint Retrospective“.7
Jedes dieser Teammeetings ist ein Synchronisationspunkt für das gesamte Team und hat seinen eigenen Schwerpunkt. Im Sprint Planning „befüllt“ man den Sprint. Man gibt eine genaue Schätzung ab, was das Team im anstehenden Zeitfenster schaffen kann. In der Review werden dem Kunden die Ergebnisse des Sprints gezeigt. Es geht vor allem darum, das Feedback des Endnutzers zu bekommen, um es in den nächsten Sprint einfließen zu lassen. Und in der Retrospective wird über den vergangenen Sprint reflektiert und innerhalb des Teams diskutiert, was man besser machen kann.8
Für jede der drei Teamsitzungen exis-tieren Trainingskarten, die auf die Bedürfnisse von Musikerinnen und Musikern zugeschnitten sind. Die Trainingskarte für die Review heißt beispielsweise „Resonanz finden“9. Hier findet ein internes Vorspiel unter Trainingspartnern und der aktive Austausch darüber statt. Sowohl konkret vorbereitete Stellen in einem Musikstück werden reflektiert als auch der Übeplan, der bei diesem Treffen ebenso offengelegt wird. Das direkte Feedback des Publikums wird für denjenigen, der seine Ergebnisse zeigt, zur Inspirationsquelle fürs weitere Üben. Dabei wird aber speziell darauf geachtet, dass ein Austausch auf Augenhöhe stattfindet und ein Laie oder eine fachfremde Person mit ihrer Wahrnehmung genauso ernst genommen wird wie ein Profi. Außerdem geht es darum, etwas konkret messbar zu machen, um Daten zu generieren, was funktioniert hat und was nicht. Man geht an ein Musikstück heran wie an ein Produkt: Was sind die messbaren Ergebnisse? Welche Stellen habe ich geschafft? Wie viele Takte? Habe ich das geschafft, was ich mir für den letzten Sprint vorgenommen hatte? Wenn nein, warum nicht? Wie kann man das Ergebnis optimieren? Was genau muss dafür getan werden?
Teamspiel im Unterricht
Der natürliche Weg für eine Lehrperson, diese Ideen in den eigenen Unterricht einfließen zu lassen, wäre, diese erst einmal selbst zu trainieren. Dazu muss man sich zunächst Trainingspartner suchen, die diesen Weg mitgehen wollen. Das können Kolleginnen und Kollegen sein oder aber auch die eigenen Schülerinnen und Schüler. Diese Kombination ist besonders charmant, denn sie generiert Augenhöhe und wertvolle Einsichten für die Unterrichteten und nimmt sie auf diesem didaktischen Weg sofort mit. Da die Lehrperson in den Teamsitzungen ihr eigenes Üben genauso offenlegt wie alle anderen, wird sie als „Spielertrainer“ wahrgenommen. Konkretes Vorgehen beim Üben wird für die Schülerinnen und Schüler sichtbar und kann übernommen werden. Sich als Lehrperson auch mit seinen eigenen Schwierigkeiten zu öffnen, bringt Authentizität und Menschlichkeit in den Unterricht.
Ein zweiter Schritt wäre dann, innerhalb einer Klasse Übeteams zu bilden und mit ihnen die Karten zu trainieren. Es ist dabei unbedingt davon auszugehen, dass die Teams erst dann eigenverantwortlich außerhalb des Unterrichts mit den Trainingskarten arbeiten, wenn sie lange genug angeleitet wurden und Sinn und Zielsetzung der Treffen verinnerlicht haben.
Wie bei einem Open-Source-Software-Projekt der Code für alle Programmiererinnen und Programmierer einsehbar ist, sind die hier vorgestellten Karten öffentlich. Die Karten werden in sogenannten „Kartendecks“ gruppiert. Die hier vorgestellten Karten gehören zu den Decks „Tomato“ und „Scrum“. Beide beinhalten noch mehr Karten und wachsen stetig weiter. Je nach Trainingsschwerpunkt werden Karten, nachdem sie verfasst wurden, einem Deck zugeordnet oder es wird ein neues Deck dafür eröffnet. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Die Möglichkeiten sind unerschöpflich, denn Scrum ist nur eine von vielen agilen Frameworks und Techniken.
Wenn man bereits ein paar Monate mit den Karten arbeitet und das Konzept verstanden hat, entsteht oft das Bedürfnis, sein eigenes Training maßzuschneidern und Karten anzupassen, damit zu spielen oder gar völlig neue für sich und das Team zu schreiben. Die Layout-Schablonen für die Trainingskarten, sowie die bisher erstellten Trainingskarten sind zur Anwendung und Weiterentwicklung gedacht und stehen unter www.music-moves.de zur Verfügung. Das Konzept von music moves setzt darauf, dass Jede und Jeder lernen kann, das eigene Üben täglich weiterzuentwickeln und es so maßzuschneidern, wie es einem selbst am meisten entspricht.
Anmerkungen
1) Beck, Kent et al.: „Manifesto for Agile Software Development“. http://www.agilemanifesto.org (Stand: 15.07.15)
2) Beck, Kent et al.: 7. Agiles Prinzip. In: „Principles behind the Agile Manifesto“. http://www.agilemanifesto.org/principles.html (Stand: 15.07.15)
3) Beck, Kent et al.: 3. Agiles Prinzip. In: „Principles behind the Agile Manifesto“. http://www.agilemanifesto.org/principles.html (Stand:15.07.15)
4) Nöteberg, Staffan: „Pomodoro Technique Illustrated“. Raleigh: The Pragmatic Bookshelf, 2009
5) Klickstein, Gerald: „Beruf: Musiker. Ein Handbuch für die Praxis“. Mainz: Schott, 2011, S. 21
6) Brandhuber, Regina: „TOM 08 Aufdrehen –fertig – los“. In: „training-cards/music moves/Tomatoes (TOM)/ger/apprentice“. https://github.com/Teamtool/training-cards/blob/master/music%20moves/To…; (Stand: 15.07.15)
7) Schwaber, Ken; Sutherland, Jeff: „The Scrum Guide“. http://www.scrumguides.org/scrum-guide.html (Stand: 15.07.15)
8) Beck, Kent et al.: 12. Agiles Prinzip. In: „Principles behind the Agile Manifesto“. http://www.agilemanifesto.org/principles.html (Stand: 15.07.15)
9) Brandhuber, Regina: „SCR 02 Resonanz finden“. In: „training-cards/music moves/Scrum%20(SCR)/ger/apprentice“. https://github.com/Teamtool/training-cards/blob/master/music%20moves/Sc… (16.07.15)