Nicht ohne Grund erinnert der Titel des Abends im Stuttgarter Wilhelma-Theater an den berühmten Filmklassiker von Wim Wenders: „Himmel über Adelsheim“. Über Engel, die von dort auf die Erde herabsteigen wie damals in Berlin, ist nichts bekannt. Wohl aber geht es in diesem außergewöhnlichen Projekt des Stuttgarter Kammerorchesters um die Gedanken und Lebenswelten der Menschen, über denen sich dieser Himmel wölbt: um jugendliche Strafgefangene, deren Empfindungen üblicherweise im Verborgenen schlummern.
Einige Insassen der Justizvollzugsanstalt Adelsheim haben ihn maßgeblich gestaltet – gemeinsam mit dem Stuttgarter Kammerorchester, das bei diesem Projekt nicht nur aktiv musikalische Brücken zwischen Beethoven und Rap-Musik realisiert, sondern schon über längere Zeit viel Zeit, Geld und persönliches Engagement eingebracht hat, um den jungen Männern diese großartige Erfahrung zu ermöglichen. Seit 2015 schon entwickelt das SKO mit seinem „SKOhr-Labor“ partizipative Formate für Kinder und Jugendliche unterschiedlichster Herkunft, übernimmt dadurch soziale Verantwortung und leistet einen wichtigen Beitrag zur Musikkultur nachfolgender Generationen. Katharina Gerhard und Ulrike Stortz leiten das Musikvermittlungsprogramm.
Neun junge Männer sind es insgesamt am 17. Juli, die einen Abend lang das einzige Gefängnis in Baden-Württemberg für straffällig gewordene junge Männer verlassen dürfen. Sie sind um die 20 Jahre jung und was sie performen, ist das Ergebnis unzähliger Proben und Workshops, die schon vor der Pandemie begonnen hatten und wegen dieser immer wieder unterbrochen werden mussten. SKO-Musikvermittlerin Katharina Gerhard hat das Projekt maßgeblich auf den Weg gebracht und in der JVA gemeinsam mit einem großen Team umgesetzt. Der dortige Verwaltungsleiter Klaus Brauch-Dylla hat schon früher Projekte mit dem Landesjugendorchester begleitet und setzt sich immer wieder für solche Unternehmungen ein, die im Anstaltsbetrieb mehr Aufwand verursachen und deswegen nicht an allen Stellen nur beliebt sind. Immer wieder bei musikalischen Projekten mit Insassen der JVA dabei ist außerdem das Gesangsensemble „Vocalissimo“ der Musikschule Möckmühl. Leiterin Regine Böhm voll des Lobes: „Diese Gruppe ist wirklich besonders gut – die sind echt toll!“
Es jagt einem Gänsehaut über den Rücken, wenn von der Bühne aus klangmächtig aus vielen Mündern und Instrumenten tief empfundene Leidenschaft in den Zuschauerraum schwappt: „Nur wer die Sehnsucht kennt / Weiß was ich leide! Allein und abgetrennt / Von aller Freude, / Seh’ ich ans Firmament / Nach jener Seite.“ Die von Beethoven vertonten Zeilen aus der Feder von Johann Wolfgang von Goethe singen die jungen Männer allesamt auswendig und mit großer innerlicher Beteiligung. Doch es bleibt nicht bei Goethe und Beethoven: Unversehens wird ein Rap daraus, und diesmal sind es die Sehnsuchts-Texte der Jugendlichen, die den Weg ins Mikrofon und direkt zum Publikum finden. Diese haben sie in vielen Workshops zusammen mit dem Rapper Danny Fresh und dem Beatboxer und Musikproduzenten Pheel erarbeitet. Auch der renommierte Rapper Afrob, der das Projekt mit begleitet hat und auf der Bühne zu erleben ist, bringt am Ende des Abends seine Begeisterung über die Talente innerhalb der Crew deutlich zum Ausdruck.
Die Inhalte der Texte sind nicht zimperlich. Zum Glück gibt es sie ausgedruckt zum Mitnehmen im Foyer des Theaters, denn die Jungs stoßen die rhythmischen Silben so schnell und mit Nachdruck zwischen den Zähnen hervor, dass nicht jede automatisch zu verstehen ist. Auch den Jargon, den die jungen Männer untereinander verwenden, kennen an manchen Stellen nur Eingeweihte – im Ausdruck stehen entsprechende „Übersetzungen“, das hilft. Sehr persönlich sind die Zeilen an vielen Stellen. Sie erzählen von einer Lebenswelt, die von der des klassischen Konzertpublikums Lichtjahre entfernt ist. Und doch sind es Gefühle, wie sie, aufs Essenzielle reduziert, wahrscheinlich fast alle Menschen haben. Die Söhne fühlen sich schlecht, wenn sie ihre Eltern, vor allem ihre Mütter, enttäuschen. Oder wenn sie für ihre Kinder kein Vorbild sein können. Auch gute Erinnerungen gibt es – das wird im Rahmen des Projektes immer wieder deutlich. Verschüttet oft, doch durch die Arbeit mit den Rappern, dem Orchester, der Regisseurin Nina Kurzeja und Dirigentin und Sopranistin Viktoriia Vitrenko wieder aus dem Dunkel des Vergessens geholt. Sie reißen mit ihrer sehr zugewandten, klaren Art alle ganz selbstverständlich mit. Louis zum Beispiel, der auch einen tief berührenden Prosatext geschrieben hat, hat inzwischen eine Gitarre in seiner Zelle und bringt sich selbst das Spielen bei. Ihm hilft das Texteschreiben dabei, die Dinge zu reflektieren. „Wenn ich mir im Kopf einen Beat vorstelle, kommt der Text von ganz allein“, sagt er. Dankbar ist er für den vielseitigen Input, den ihm das Projekt ermöglicht habe. Von achtstündigen Workshops erzählt er, die richtig anstrengend gewesen seien, und nach denen er manchmal noch mehrere Stunden für die Zeitung der JVA am PC gesessen habe. „Man ist dann so müde, dass man abends einfach einschläft – das ist so schön!“, sagt er. Im JVA-Leben keine Selbstverständlichkeit.
Jakob, der wie knapp zehn weitere junge Männer nur bei der ersten Aufführung innerhalb der Gefängnismauern dabei sein durfte, lässt ebenfalls viel Musik in sein Leben. Er höre auf seiner Zelle Klassikradio, weil er das so beruhigend finde, sagt er. Doch der Live-Klang des Orchesters bei den Proben in der Turnhalle der JVA, das sei noch einmal etwas ganz anderes. Er hat schon einen riesigen Stapel an Texten geschrieben, die er nach seiner Entlassung alle mitnehmen wird. Und er wünscht sich, dass die Menschen aus der Welt jenseits der Gefängnismauern auch seine Welt kennenlernen und verstehen, dass Rap-Text nicht immer nur von Gangstern und deren Welt handeln. „Rap hat so viele Facetten!“, betont er. „Dazu braucht es Kreativität – die Texte zu schreiben, das ist auch Arbeit und eine Form von Kunst.“ Als Kind habe er immer wieder Instrumente gespielt, sagt er – aber das dann aus den Augen verloren. Der junge Moses singt seinen Beitrag in der Muttersprache, in den Worten der Roma. Auch ohne die Übersetzung im Begleitheft kommt die Botschaft im Herzen an: Sehnsucht, Melancholie, Hoffnung. Umrahmt wird sein wunderschöner, tief berührender Gesang von Beethovens „Gedenke mein“, das aus den vielen Mündern seiner Mitgefangenen und der Möckmühler Frauen erschallt.
So richtig öffnet sich der Himmel am 17. Juli im Wilhelma Theater, wenn die vielen Ensembles zu einem großen Ganzen verschmelzen. Die jugendlichen Rapper singen Beethoven – der ja, wie sie in ihrer Zeitungsausgabe zur Aufführung schreiben, mitunter als ziemlicher Bürgerschreck galt – mit derselben Inbrunst wie die Streicher*innen des Kammerorchesters sich mit Haut und Haaren an die Beats der Rap-Nummern verlieren. Sogar der Seelsorger der Anstalt und einzelne Beamte singen stellenweise mit, einer spielt Baglama und ein weiterer kommt mit zwei seiner Jungs und gibt eine Kostprobe seines Könnens als Breakdance-Weltmeister. Selbst zeitgenössischer Tanz wurde in das Projekt integriert.
Das Publikum will am Ende des Abends gar nicht mehr aufhören mit Jubeln, und die jungen Männer lassen einzelne Kollegen mit strahlenden Augen hochleben. Das ist wahrscheinlich das Allerschönste an diesem Abend – und da glitzert doch ein bisschen himmlisches Glück: Wenn die Blicke der jungen Männer sich öffnen und vor Freude strahlen. Die große Woge schwappt von der Bühne ins Publikum und wieder zurück.