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Unterwegs in Sachen Neue Musik: Schülerinnen und Schüler der Trossinger Friedensschule. Foto: Regine Meyer
Unterwegs in Sachen Neue Musik: Schülerinnen und Schüler der Trossinger Friedensschule. Foto: Regine Meyer
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Mit dem Doppeldeckerbus auf Erkundungsfahrt

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Das Netzwerk Neue Musik Baden-Württemberg zieht mit einem spektakulären Vermittlungsprogramm durchs Land
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Neue Musik ist schwierig, Neue Musik ist nur was für Experten, die sich auf allerlei Festivals tummeln und ausgiebig fachsimpeln – dieses Klischee, demzufolge Neue Musik (noch immer oder wieder) als eine Art Geheimwissenschaft anzusehen ist, steht der Neuen Musik selbst, vor allem ihrer Rezeption auf breiter Ebene, im Weg. Man kann das als ausübendes Ensemble oder Fes-tival-Organisator als Faktum hinnehmen. Man kann aber auch genauso gut in Frage stellen, ob der Elfenbeinturm wirklich der richtige Ort ist, an dem sich die jüngsten musikalischen Entwicklungen abspielen, ob man mit all dem, was Avantgarde ist oder sein möchte, im geschützten Raum des Konzertsaales bleiben will – oder mit ihr nach draußen geht und sie, salopp gesprochen, „unter die Leute“ bringt.

Letzteres versucht das Netzwerk Neue Musik Baden-Württemberg e.V. (NNM) zu erreichen – und
dies ganz aktuell mit einer recht spektakulären Aktion. In deren optischem Mittelpunkt steht ein alter London-Bus, eines jener Modelle mit dieser charakteristischen Fahrerkabine auf der rechten Seite und dem gro-ßen rechteckigen Loch daneben. Ein solcher doppelstöckiger Oldtimer ist das markante Zentrum des jüngsten Projektes, mit dem das NNM einen ungewöhnlichen Weg der Musikvermittlung verfolgt. Keine Frage: Wo dieser Bus auftaucht, da sorgt er für Aufsehen, auch wenn das Gefährt nicht mehr klassisch rot, sondern ziemlich bunt unterwegs ist. Vor allem aber geht es in ihm sehr musikalisch zu. Sein Dach kann der Bus übrigens lüften: Dann entsteht eine Plattform, eine Bühne, auf der einiges passieren kann. Vom 16. Oktober an fuhr der Bus drei Wochen lang durch Baden-Würt-temberg und machte in dieser Zeit an vierzehn verschiedenen Orten Halt. Orte ganz unterschiedlicher Art, an denen ganz unterschiedlich daran gearbeitet wird, Neue Musik einem möglichst breit gefächerten Interessentenkreis nahezubringen.

In Trossingen, wo der klingende Bus im Rahmen der „music academy Donaueschingen“ seinen ersten Auftritt hatte, waren es sechs Kinder der Friedensschule, die zusammen mit dem Musikpädagogen Bernhard Rißmann eine Art Performance vorbereitet hatten und dann auf der Bühne im Obergeschoss des Busses präsentieren konnten: „Thema war der Ablauf eines Tages von Mitternacht bis Mitternacht“, erläutert Konrektorin Regine Mayer, die als Lehrerin das Projekt betreut hat. „Das war klanglich sehr plastisch und fantasievoll in Szene gesetzt.“ Und fraglos eine irre Überraschung für die mehr als 300 Grundschüler, als der Bus zur großen Pause eintraf, auf dem Schulhof mehrere Runden drehte und dann zur Bühne wurde für die beschriebene Performance – eine sinnliche Erfahrung mit Tiefgang.

Einige Tage später: Der Bus parkt an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Zielgruppe hier: Lehrkräfte und Studierende, die sich im Rahmen ihrer aktuellen oder zukünftigen beruflichen Praxis intensiver mit Neuer Musik beschäftigen, sie in ihre pädagogische Arbeit vor Ort in ihren Schulen mit einbeziehen möchten. In Form eines eintägigen Workshops wurden entsprechende Modelle vorgestellt, wie ein gelingender Musikunterricht mit dieser Zielsetzung aussehen kann. Als Partner mit dabei: das Ensemble „Chambre d’écoute“, während draußen im Bus Livemusik Neugier auf sich zog.

Ein weiteres schönes Beispiel: In Ulm feiert die örtliche Musikschule zur Zeit ihren 50. Geburtstag – Grund genug, für’s bevorstehende Festkonzert eine neue Komposition in Auftrag zu geben, ein Stück Neuer Musik, in dem all jene gleichermaßen gefordert sind, die der Musikschule ihr Leben einhauchen: Lehrer, Schüler, Eltern … Auch für diese Geburtstagsaktion kommt der London-Bus nach Ulm und wirbt direkt auf dem Münsterplatz – nicht nur für die Musikschule sondern auch für Neue Musik.

Rund ein halbes Jahr Vorbereitungszeit haben Helga Maria Craubner und Katharina Weißenborn, Geschäftsführerinnen beim NNM, für diese Busreise investiert – nicht gerade luxuriös viel. „Das wäre ohne unsere Netzwerk-Partner vor Ort nicht gegangen – auch nicht ohne unsere Partner, die nicht direkt mit Neuer Musik zu tun haben“, erläutert Craubner. Die Fahrtroute und die Haltestationen wurden geplant und festgelegt nach einer Ausschreibung, auf die hin sich sowohl bereits laufende Vermittlungsprojekte bewerben konnten als auch solche, für die der London-Bus als Initialzündung diente, um etwas Neues (vielleicht auch schon längst Geplantes, aber noch nicht Realisiertes) anzufangen und dies dann gleich durch das spektakuläre Gefährt öffentlichkeitswirksam in Erscheinung treten zu lassen. Oder überhaupt zum ersten Mal zeitgenössische Musik zu „wagen“, wie jener Kirchenmusiker in Friedrichshafen, der persönlich durchaus große Affinität zu Neuem hat, das aber behutsam an jene herantragen will, mit denen er täglich im Beruf umgeht. Da kommt der kunterbunte Bus natürlich gerade richtig – zumal mit der dort direkt am Bodensee realisierten Installation „Der Klang des Wassers“. Viel dichter lässt sich ein Bezug zwischen Kunst und Lebenswelt wohl kaum herstellen. Gut möglich, dass auf diesem Weg Vorurteile und Berührungsängs-te abgebaut werden können, dass das Fremde auf einmal gar nicht mehr so fremd erscheint.

Mit der Bus-Aktion will das NNM aber nicht nur um Akzeptanz für die unübersehbar große und vielfältige Szene der Neuen Musik bei ihren potenziellen Adressaten werben, sondern auch für sich selbst. Der Netzwerkverein ist ja mit seinen zwei Jahren noch recht jung, wenngleich schon kräftig aktiv. Dennoch dürfte sich auch in Insider-Kreisen noch längst nicht überall herumgesprochen haben, dass es dieses Netzwerk und seine Koordinations- und Vermittlungs-Aktivitäten gibt.

Genau aus diesem Grund sind Donaueschingen und Weingarten als Start- und Endpunkt ausgewählt worden. Hier wie dort muss sicher niemand mehr zur Neuen Musik „bekehrt“ werden, für das jeweilige Publikum gehört sie nämlich mehr oder weniger lange zur gepflegten Tradition. Und auch in der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung in Trossingen, wo mit „Musik aktuell“ seit Jahren ein Vermittlungsprojekt erfolgreich läuft, inzwischen unter dem Dach der „music academy Donaueschingen“, sind keine Ressentiments gegenüber ungewohnten Klängen zu erwarten. Aber auch hier in Trossingen, wo Seminar- und Lehrgangsteilnehmer aus ganz Deutschland zusammenkommen, war die punktuelle Präsenz des NNM im Form der grandiosen Bus-Aktion sicher ein gutes Signal.

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