Lange war es angekündigt, einige Monate hat es gedauert, nun ist es vollendet: Das „Dvorák-Experiment“ mit Dvoráks Sinfonie „Aus der neuen Welt“. Das Sinfonieorchester des Norddeutschen Rundfunks und sein Chefdirigent und Ideengeber Thomas Hengelbrock haben die Experimentierphase am 19. September 2014 mit einem Konzert im Studio Rolf Liebermann in Hamburg zu ihrem Abschluss gebracht. 22.000 Schülerinnen und Schüler sollen es gewesen sein, die in mehr als 300 Schulklassen oder -turnhallen von der ostfriesischen Nordseeküste bis ins Allgäu vor dem Video-Live-Stream gesessen und der Musik gelauscht haben.
Wer vor Ort kein hinreichend schnelles Internet hatte, musste sich das Werk vor dem Radio zu Gemüte führen. Vor dem Hintergrund, dass sich das NDR-Sinfonieorchester um zahlreiche musizierende Jugendliche bereichert hatte, war die Radiosendung, ohne einen Blick auf die jungen Mitspielerinnen und Mitspieler erhaschen zu können, ein wenig speziell. Konzentriertes Musikhören via Radio lässt nur wenig Wohlwollen hinsichtlich seiner Qualitätsspielräume zu, das wissen sowohl alle Klassikfans als auch die, die sich bereits im vergangenen Jahrhundert konzeptionelle Gedanken um Schulfunksendungen im Hörfunk gemacht haben. Den Verantwortlichen für den zweiten Aufschlag im Jahr 2015 sollte man empfehlen, die Vor-und Nachteile visueller und auditiver Übertragungsmedien noch einmal gründlich zu bedenken.
Viele der teilnehmenden Schulklassen hatten sich über Wochen und Monate an dem Dvorák-Experiment beteiligt, hatten sich seit dem Frühjahr mit der Sinfonie theoretisch und praktisch auseinandergesetzt, eigene Improvisationsszenen als „responses“ auf Dvoráks Original entwickelt oder das, was der Komponist „nur im Geiste dieser amerikanischen Volkslieder geschrieben hatte“, in Szene gesetzt. Neben den Kindern, die das Spektakel in ihren Schulen medial verfolgten, kamen 3100 weitere Schülerinnen und Schüler in den Genuss, das Konzert in den Sendesälen der ARD mitzuerleben und damit selbst zum Teil des Experiments zu werden. Zwischen den vier sinfonischen Sätzen berichtete Thomas Hengelbrock ein wenig über Dvorák und dessen Musik und zeigte sich selbst beeindruckt von dem hohen Maß an Phantasie, das sich die Schulklassen, deren ausgewählte Beiträge via Trailer eingespielt wurden, hatten einfallen lassen. Ob das aufwändige Anfertigen Hunderter von selbstgebauten Panflöten im richtigen ästhetischen Verhältnis zu dem etwa fünf Sekunden dauernden viertönigen Motiv des 2. Satzes der Sinfonie stand, können nur die Beteiligten selbst beantworten.
Die „Lust auf klassische Musik“ sollte mit dem „D-E“ geweckt werden, so stand es auf den Werbeseiten der ARD. Dass um die 1.500 Musiklehrerinnen und -lehrer aus allen Teilen Deutschlands ihre Schulklassen am 19.09. nicht zu diesem Event „verführen“ konnten, weil sie zeitgleich an dem alle zwei Jahre stattfindenden Bundeskongress Musikunterricht in Leipzig teilnahmen, muss wohl als organisatorisches Missgeschick verbucht werden. Schade, dass der Bitte einiger, den Konzerttermin deswegen noch einmal zu verschieben, nicht nachgekommen werden konnte.
Vermissen konnte man ebenso eine Beteiligung der Musikschulen. Warum waren sie nicht aufgerufen, sich ebenfalls musizierend und klangexperimentierend an dem Event zu beteiligen? Schließlich sind es gerade die zahlreichen engagierten Instrumentalschülerinnen und -schüler der Musikschulen, welche sinfonische Musik bereits soweit in ihr Leben integriert haben, dass sie ihrerseits sicher den ein oder anderen hochwertigen Beitrag zum „D.-E.“ hätten leisten können. Aber auch ohne die Musikschulschüler zeigten sich die Veranstalter von dem regen Interesse der jungen Leute fasziniert. Es ist in erster Linie die quantitative Begeisterung, die von den Verantwortlichen positiv wahrgenommen wurde. Über die musikalische und ästhetische Qualität wurde bislang öffentlich nicht sehr viel gesprochen. Viele kleine, feine und eher bescheidene aber nicht minder künstlerische Beiträge, die landauf, landab in zahlreichen Klassenzimmern stattfanden, sind öffentlich vermutlich wenig bis gar nicht bekannt geworden, werden den Schülerinnen und Schülern aber dennoch lange in guter Erinnerung bleiben.
Ob das „D.-E.“ als richtungsweisender Beitrag zur Gesamtentwicklung der bundesdeutschen Musikvermittlungsszene in die Geschichtsbücher eingehen wird, kann allein die Zukunft zeigen. Ebenso wird eine Weiterentwicklung der Musik vermittelnden Unterrichtsmaterialien, die als Anregung zur Beschäftigung mit Dvoráks Musik dienten und dieses Jahr allen interessierten Lehrpersonen sowie ihren Schülerinnen und Schülern durch die ARD zur Verfügung gestellt wurden, ihren Teil zur Beantwortung dieser Qualitätsfragen beitragen. Nächstes Jahr ist es der Bayerische Rundfunk, der das zweite Experiment oder die zweite Phase des ersten initiieren wird. Nach welchen Kriterien dann die konkrete Werkauswahl erfolgen soll, gehört zu den Fragen, auf die man schon heute gespannt sein darf.