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Deutsch-amerikanische Bläserprobe via Internet. Foto: John D. Pasquale
Deutsch-amerikanische Bläserprobe via Internet. Foto: John D. Pasquale
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Mit Lernimpulsen aus Übersee aufs nächste Level

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Ein transatlantischer Austausch in Sachen Bläserklassen
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Mittwoch, 14 Uhr in Ettenheim, Südbaden. 36 Schülerinnen und Schüler der Realschule der Heimschule St. Landolin sitzen gespannt auf den Stühlen und schauen auf die Projektionswand. Nach einem Klick am Computer auf einen blauen Button mit der Aufschrift „Join Meeting“ sind wenige Sekunden später drei Personen mehr im Raum. „Hallo! Schön, euch wieder zu sehen, wie geht es euch allen?“, klingt es von der anderen Seite des Atlantiks herüber in die Ortenau.

Die Stimmen aus dem Lautsprecher und die eingeblendeten Gesichter an der Projektionswand sind den Schülerinnen und Schülern vertraut, denn die drei amerikanischen Dirigier-Professoren unterrichten die Klasse nicht zum ersten Mal. Seit Beginn des Schuljahres 2014/15 läuft in der Bläserklasse der Jahrgangsstufe 8 ein Kooperationsprojekt, in dessen Rahmen schon mehrere Online-Tele-Unterrichtsstunden stattgefunden haben. Im Dezember waren Prof. Dr. John D. Pasquale und Prof. Dr. Andrea Brown (University of Michigan) sowie Prof. Dr. David Clemmer (Eastern Kentucky University) für einen Tag in Ettenheim und haben die Schülerinnen und Schüler persönlich kennengelernt.

Was folgt, sind 60 Minuten höchst konzentriertes Arbeiten in einer Bläserklassenstunde, in der die Dirigenten aus Übersee wegen eines kleinen Zeitversatzes in der Bild- und Tonübertragung zwar nicht selbst dirigieren können, aber durch die Stunde führen und ansagen, welche Stellen der Musikstücke gespielt werden sollen. Als Musiklehrer im Klassenzimmer agiere ich sozusagen als ihr verlängerter Arm und dirigiere das Orchester. Dabei hat der Unterricht an vielen Stellen eher den Charakter von Instrumentalunterricht, als den einer Orchesterprobe. „Es klingt, als liege die Zunge der Saxophonspieler zu tief im Mund, so als würden sie ‚daa‘ sagen. Es müsste eher so sein, als sagten sie ‚duu‘, damit die Zunge weiter nach oben kommt.“ Den Professoren, die an ihren Schreibtischen in Michigan und Kentucky sitzen, entgeht kein Detail, obwohl sie über 6.000 Kilometer entfernt sind. Bei ihnen ist es jetzt 8:00 Uhr morgens, weshalb der eine auch gemütlich eine Kaffeetasse in der Hand hält. Die Schülerinnen und Schüler haben sich zu Beginn des Schuljahres entschieden, einmal pro Monat zusätzlichen Unterricht am Nachmittag bei den Amerikanern zu nehmen. Wegen der Zeitverschiebung wäre dieses einmalige Kooperationsprojekt mit amerikanischen Profimusikern sonst nicht möglich – und das alles noch in der Fremdsprache. Doch von Stunde zu Stunde gewöhnen sich die Schülerinnen und Schüler mehr an die Erläuterungen auf Englisch. Wenn etwas nicht verstanden wird, weil musikalische Fachbegriffe auf Englisch enthalten sind, übersetze ich sinngemäß. Doch man merkt auch, wie die Fremdsprache inklusive Fachbegriffen den Schülerinnen und Schülern zunehmend geläufiger wird.

Ausgefeilte Methodik

Bei den Professoren scheint das Repertoire an Wissen und Erfahrung über die Instrumente und über Orchester-Probetechniken unerschöpflich. Gearbeitet wird an grundlegenden Instrumental- und Orchesterkompetenzen. Was dabei für die Schülerinnen und Schüler sowie für mich als Musiklehrer beeindruckend ist, sind einerseits das große Detailwissen zur Unterrichtsmethodik für jedes einzelne Orchesterinstrument und andererseits die ausgefeilte methodische Systematik, mit der die Inhalte des Bläserklassenunterrichts vermittelt werden. Alle Inhalte, begonnen beim Spüren eines gemeinsamen Pulses, dem Zählen des Rhythmus, klaren Tonanfängen und -enden, gutem Klang et cetera bauen logisch aufeinander auf, nichts bleibt dem Zufall überlassen und mit jedem Schritt klingt das Orchester hörbar eine Stufe besser. Kein Zweifel – hier sind absolute Spezialisten im Klassenzimmer anwesend. Tatsächlich gehören die Dirigenten aus Amerika zu den Besten ihres Fachs. Die School of Music an der University of Michigan ist eines der renommiertesten Musikinstitute Nordamerikas. Dr. John D. Pasquale, der zusammen mit mir dieses Kooperationsprojekt initiiert hat, ist dort Director of Athletic Bands. Liest man seine Biographie, wird deutlich, dass er zu den aufstrebendsten und erfolgreichsten Vertretern einer jungen Dirigentengeneration für Symphonische Blasorchester in Nordamerika gehört. In seiner Generation vereinigen sich Tradition und Erfahrung, die auf große Namen wie John Philip Sousa oder Frederick Fennell zurückgehen, mit dem Ideenreichtum und der Innovationskraft einer jungen Generation von Dirigenten.

Und sie hören ganz genau zu. Kaum ist in Ettenheim ein neuer Abschnitt musiziert, kommt die Stimme aus dem Lautsprecher: „Während ihr gespielt habt, haben David und ich uns im Chat unterhalten: Wir merken sofort, wenn jemand sein Hör-Level verlässt. Dann fallen gleich einzelne Stimmen aus dem Gesamtklang heraus.“ Die stets konstruktive Kritik ist auf Englisch, aber für die Schülerinnen und Schüler unmissverständlich. Also noch einmal mit maximaler Konzentration. Und das um kurz vor 15:00 Uhr. Am Ende sind alle geschafft, aber wegen des tollen Ergebnisses auch hoch zufrieden.

Was machen die Amerikaner anders als Dirigenten in deutschen Orchestern? Der Hauptunterschied besteht wohl darin, dass sie die Arbeit mit der Bläserklasse nicht als Probe, sondern als Unterricht auffassen und dass sie ihre Rolle folglich vor allem als Lehrer für Orchester und weniger als Dirigent im klassischen Sinn verstehen. Dabei geht es einerseits darum, dass die Schülerinnen und Schüler individuell an ihrem Instrument besser werden, andererseits geht es aber auch stets um den Fortschritt der ganzen Gruppe. Alle Kompetenzen werden einer aufbauenden Systematik folgend, schülergerecht und anschaulich vermittelt. Beispielsweise kommt nicht einfach der Hinweis „hört besser aufeinander, wenn ihr spielt“, sondern die Ansage lautet: „Bitte spielt in Hör-Level 1.“ Zu Beginn des Projekts war solch eine Ansage noch ungewöhnlich. Von verschiedenen Hör-Levels, also Stufen des Zuhörens, hatten die Schülerinnen und Schüler bisher noch nicht gehört. Doch mittlerweile weiß jeder, dass er bei dieser Ansage bewusst nur auf sich selbst achten und auf das eigene Spiel hören soll. „Und jetzt bitte Hör-Level 2.“ Nun soll ein klanglich homogenes Trio mit den beiden Nebensitzern gebildet werden, in dem alle Aspekte des Musizierens übereinstimmen: Anstoß, Lautstärke, Klangfarbe, Tonqualität … – jeder weiß genau, worauf er hören und achten soll. Im Unterrichtsraum wird es den Musikerinnen und Musikern langsam warm. Ganz schön anstrengend – die Konzentration ist enorm. Doch damit nicht genug. Bei aller Systematik und Anschaulichkeit haben die Profis aus Amerika einen kompromisslos hohen Anspruch. Ihr Ziel ist musikalische Perfektion, auch im Schülerorchester. Deshalb folgt selbstverständlich „Hör- Level 3“, in dem die Trios in klangliche Relation zu den anderen Gruppen im Orchester gebracht werden.

Neben dem Hören gibt es viele andere Bereiche, die beim Musizieren zu beachten sind und die in vergleichbar anschaulicher Weise vermittelt werden. Puls, Rhythmus, Zählen, Anstoß, Artikulation, Balance, musikalischer Ausdruck – kein Aspekt wird ausgelassen. Wie gut diese Art der Vermittlung funktioniert, lässt sich aus der folgenden Äußerung einer Schülerin ablesen: „Wir sangen die Takte auf unserer Silbe. Jedes Instrument hat eine eigene Silbe. Danach spielten wir die Stelle so wie sie in den Noten stand. Es war sehr beeindruckend, denn es hat auf Anhieb geklappt und sehr schön und klar geklungen.“

In den Tagen nach einer solchen Unterrichtsstunde folgt stets eine einstündige Nachbesprechung des internationalen Lehrerteams. Hier reflektieren wir die Unterrichtsstunde und besprechen die jetzt anstehenden Unterrichtsschritte bis zum nächsten gemeinsamen Online-Termin. Dabei legen wir sinnvolle Übungen und inhaltliche Schwerpunkte fest, die Grundlage meiner Unterrichtsplanung für die nächsten Stunden sind. Der Austausch ist dabei wechselseitig und die verschiedenen Erfahrungen im Orchester- und Musikunterricht dies- und jenseits des Atlantiks ergänzen sich. Für die beteiligten Dozenten und mich als Lehrer ist diese Kooperation deshalb wie eine große Langzeitfortbildung. Die Wirkung des Projekts auf die Schülerinnen und Schüler bringen die folgenden Zitate aus schriftlichen Reflexionen zum Ausdruck, die von den beteiligten Schülerinnen und Schülern nach dem letzten Konzert im Dezember geschrieben wurden: „Was ich sehr bemerkenswert finde ist, dass wir mit den Dirigenten über tausende von Kilometern kommunizieren können. Wir bekommen viele neue und hilfreiche Tipps. Toll ist auch, dass sie während dem Spielen ernst bei der Sache sind, es aber trotzdem witzig gestalten. Ich finde, dass wir uns alle sehr verbessert haben.“ Eine andere Schülerin schrieb: „Durch die Proben mit den Amerikanern habe ich sehr viel dazu gelernt. Denn zu Hause zähle ich die Noten, bzw. die Stücke jetzt öfters oder singe laut dazu. Das Spielen mit dem Instrument fällt mir danach leichter. Im Orchester hört seither jeder viel besser auf den anderen. Man wird auch selbstbewusster.“

Erfahrungsvorsprung

Über Ettenheim hinaus soll dieses Projekt dazu beitragen, eine Lücke im System der Schulmusik in Deutschland zu verkleinern: In den USA lernen Schülerinnen und Schüler seit über 70 Jahren in Bläser- oder Streicherklassen das Spielen von Musikinstrumenten. Das Ausbildungsangebot für angehende Musiklehrerinnen und -lehrer an den Hochschulen ist – anders als bei uns in Deutschland – flächendeckend hierauf eingestellt, und die Studentinnen und Studenten der Schulmusik werden als Bläser- und Streicherklassenlehrerinnen und -lehrer ausgebildet. Zudem findet an den amerikanischen Musikhochschulen laufend Forschungs- und Weiterentwicklungsarbeit auf dem Gebiet des Klassenmusizierens statt. So haben sich über Jahrzehnte sehr viel Erfahrung sowie didaktisches und methodisches Wissen zum Instrumental- und Orchesterunterricht mit Schulklassen angesammelt. Besucht man einen Schulmusikkongress in Nordamerika, wird schnell klar, dass hier Didaktik und Methodik für Instrumental- und Orchesterunterricht auf einem Niveau vermittelt werden, wie man es in Deutschland aufgrund fehlender Tradition in diesem musikalischen Teilbereich nicht finden kann. Zu stark ist bei uns die Praxis des Einzelunterrichts beim Erlernen eines Musikinstruments verankert.

Als Musik- und Bläserklassenlehrer einerseits und als Dozent für Bläserklassenleitung und -didaktik bei Leh-rerfortbildungen andererseits liegt der spezielle Reiz an diesem Kooperationsprojekt für mich darin, die Erfahrung und das Wissen der Kolleginnen und Kollegen aus Nordamerika zum einen für die Schülerinnen und Schüler meiner Schule zugänglich zu machen, es aber auch bei anderen Bläserklassenlehrerinnen und -lehrern zu multiplizieren. Deshalb wird das Projekt mit einem zweiten Besuch der amerikanischen Dirigenten in Deutschland enden: Im Mai 2015 werden sie die Bläserklasse in Ettenheim unterrichten und natürlich wird in diesem Rahmen auch ein Schulkonzert stattfinden (Dienstag, 5.5.2015, 19:00 Uhr an der Heimschule St. Landolin in Ettenheim). Im Anschluss fährt die Schülergruppe mit ihren Gästen an die Hessische Landesmusikakademie in Schlitz bei Fulda zum jährlich stattfindenden Yamaha Bläserklassenkongress (www.blaeserklasse.de). Hier sollen die neuen Erfahrungen der Klasse mit vielen anderen Bläserklassenlehrerinnen und -lehrern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in Seminaren und Konzerten geteilt werden, die von den Dirigenten aus Michigan und Kentucky geleitet werden. Doch bis dahin steht in Ettenheim noch viel Arbeit an. Der Input aus der letzten Online-Tele-Unterrichtsstunde muss in den jetzt folgenden regulären Unterrichtsstunden nach- und aufgearbeitet werden. Bis zum nächsten Online-Treffen will die Klasse natürlich ein ganzes Stück vorankommen, um dann wieder neue Lernimpulse zu erhalten.

„klasse.im.puls“ – ein Klassenmusikkonzept im nmzMedia-Video

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