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Ein Freiburger Klavierstudent im virtuellen Zusammenspiel mitr Sergeij Rachmaninoff. Foto: HfM Freiburg
Ein Freiburger Klavierstudent im virtuellen Zusammenspiel mitr Sergeij Rachmaninoff. Foto: HfM Freiburg
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Mit Rachmaninoff und Skrjabin am Klavier

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Alte Klavierrollen und aktuelle Technik ermöglichen neue Zugänge für die Interpretation
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Wie bei einer Zeitreise 100 Jahre zurück in die Vergangenheit lässt sich heute die Interpretationskunst berühmter Pianistinnen und Pianisten quasi live erleben, als ob man neben diesen auf der Klavierbank sitzen würde und gleichzeitig in die Tasten greift. An der Hochschule für Musik Freiburg fanden in Corona-Zeiten Vorträge und Workshops per Fernübertragung mit dem Staatlichen Rimsky-Korsakov-Konservatorium in St. Petersburg und der Fryderyk-Chopin-Musikuniversität in Warschau statt, bei denen Studierende die Interpretationskunst von Alexander Skrjabin, Sergei Rachmaninoff und weiteren berühmten Pianistinnen und Pianisten der sogenannten „Russischen Schule“ kennenlernten.

Ausgangspunkt war Freiburg im Breisgau, wo es durch die Erfindung des Welte-Mignon-Reproduktionsklaviers ab 1905 möglich war, die künstlerische Interpretation einer Pianistin, eines Pianisten aufzuzeichnen, mittels Klavierrolle zu dokumentieren, zu vervielfältigen und dann auf den entsprechenden Klavieren und Flügeln wiederzugeben. Dabei ließen sich deutlich längere Spielzeiten aufnehmen und abspielen, als es zu jener Zeit mittels Wachszylindern oder Schelllackplatten möglich war. Später kamen Reproduktionsklaviere weiterer Firmen hinzu, sodass es außerordentlich viele Einspielungen gibt, da allein für Welte über 5.000 Aufnahmen dokumentiert sind.

Dozenten waren Prof. Christoph Sischka (Hochschule für Musik Freiburg) und Sebastian Bausch (Hochschule der Künste Bern), die sich intensiv mit der Übertragung und pädagogischen Anwendung historischer Aufnahmen von Klavierrollen auf MIDI-gesteuerten Disklavieren auseinandersetzen. Das Projekt wurde vom Land Baden-Württemberg durch das Drittmittelprojekt „Digitalität in künstlerischen Studiengängen“ gefördert. Eine Zusammenfassung der Vorträge ist im Internet unter dem Link www.mh-freiburg.de/hochschule/allgemeines/aktuelles/details/klavierspie… zu finden, auch mit deutschen beziehungsweise englischen Untertiteln.

Freiheit und Inspiration

Die auf das moderne Disklavier übertragenen Klavierrollen werden an der Hochschule für Musik Freiburg für die Lehre eingesetzt: Da sich durch die Technologie einzelne Hände, Stimmen oder zum Beispiel das Pedal des Spiels der verstorbenen Komponistinnen und Komponisten ausschalten lassen, können Studierende gemeinsam mit ihnen musizieren. Sie hören deren Spiel, sehen, wie sich die Tasten oder Pedale bewegen. Dies ist eine wesentlich ganzheitlichere und umfassendere Erfahrung, als das reine Anhören von akustischen Aufnahmen. In einem Bericht des ZDF Heute-Journals vom 2. August 2021 schildert Astghik Bakhshiyan, Klavierstudentin in Freiburg, ihre Erfahrungen: Studierende hätten immer großen Respekt vor dem Notentext. Wenn aber durch diese Übertragung deutlich werde, dass beispielsweise der Komponist Alexander Skrjabin selbst improvisatorisch mit seinem Notentext umgegangen ist, gebe das eine ganz andere Freiheit und Inspiration für das eigene Spiel. Ein Student in Freiburg lernte so Sergei Rachmaninoffs Interpretation seiner Elegie op. 3, Nr. 1 aus dem Jahr 1928 kennen. Das Foto oben zeigt, wie der Student die linke Hand spielt, während der Komponist selbst die rechte Hand sowie das Pedal interpretiert, oben rechts sieht man eingeblendet die Übertragung per Internet nach Warschau. Zu Beginn des Stücks waren die Hände noch umgekehrt verteilt gewesen.

Eine Studentin in Warschau sollte sich anhand dreier verschiedener Interpretationen von Skrjabins „Poème“ op. 32, Nr. 1 eine eigene Version erarbeiten. Leff Pouishnoff beginnt in seiner Aufnahme von 1927 sehr langsam mit viel rubato, um dann die Sechzehntelaufgänge jeweils deutlich gegen Ende hin zu beschleunigen. Josef Hofmann beginnt deutlich schneller, mit jeweils schnellem ersten und langsameren zweiten Sechzehntelaufgang. Bei beiden beginnt der nachfolgende Abschnitt ab Takt 15 schneller und endet mit einem früher oder später einsetzenden ritardando. Der Charakter beider Interpretationen ist sehr unterschiedlich. Skrjabins eigene Aufnahme aus dem Jahr 1910 fällt durch etliche Freiheiten bezüglich des Notentextes auf, den nachfolgenden Abschnitt lässt er plötzlich sehr langsam beginnen, um dann in einem großangelegten accelerando auf den Höhepunkt zuzustreben. Aus diesen drei auf ganz unterschiedliche Weise freien Interpretationen entwickelte die Studentin anschließend ihre eigene Sichtweise, die überzeugte.

Zwei unterschiedliche Interpretationen von Tschaikowskys Herbstlied (Oktober) op. 37b, Nr. 10 aus den Jahreszeiten, 1905 von Ossip Gabrilowitsch und 1910 von Anna Barinova aufgenommen, liegen für eine vergleichende Interpretation ebenfalls vor. Weitere Werke harren der Umsetzung und Interpretation durch die Studierenden.

Es erschließt sich ein komplett neuer Zugang, die Interpretationspraxis des Klavierspiels von vor über 100 Jahren zu erforschen und zu lehren. Die Aussage Ferruccio Busonis in seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“, dass (sinngemäß) das notierte Werk nur ein Behelf sein kann, dass die Aufgabe bei der Interpretation sein muss, die ursprüngliche Idee wieder lebendig werden zu lassen und die Starrheit der Zeichen aufzulösen und in Bewegung zu bringen sei, dies wird beim Mitspielen auf dem Disklavier mehr als deutlich. Zeitgestaltung (rubato), Klangdifferenzierung, Polyphonie, Akkordbrechungen und formale Gliederung folgen in viel radikalerem Maß musikalischen Ideen und Vorstellungen, als dies heutzutage üblich ist. Gerade in der Gegenüberstellung unterschiedlicher Interpretationen lässt sich dies sehr deutlich erfahren. Dies ist für Studierende nicht nur in Freiburg höchst inspirierend, sondern kann per Internet international vernetzt werden.

Die gelochten Klavierrollen in digitale MIDI-Daten zu konvertieren ist komplex. So wird in dem angegebenen Video eingeblendet, wie die Rollen zum Beispiel in Bern gescannt und digitalisiert werden (siehe auch www.magic-piano.ch). Die Dynamikwerte wiederum werden in Sydney von Peter Philips mit einem speziellen Emulator in MIDI-Velocity-Werte umgewandelt. Das Yamaha Disklavier kann MIDI-Daten in bis zu 8-fach höherer Genauigkeit aufnehmen und wiedergeben, bis zu 1024 Differenzierungsstufen pro Taste sind möglich. Diese MIDI-Daten können auch via Internet weltweit vernetzt werden, was die Fernübertragung nach Warschau und St. Petersburg ermöglicht hat. In den Vorträgen wurden konvertierte Rollenaufnahmen der Systeme Welte-Mignon, Duo-Art und Ampico verwendet.

Erstaunliche Authentizität

Aber stimmt die Übertragung, hört man auf historischen akustischen Einspielungen dasselbe wie bei der Wiedergabe per Klavierrolle oder gar per Disklavier? Es gibt einen interessanten Vergleich. Edvard Grieg hat sein Stück „Schmetterling“ zweimal aufgenommen: 1903 akustisch und 1906 für Welte-Mignon. Diese Aufnahmen wurden in drei Versionen verglichen. Die akustische Aufnahme von 1903 (mit den typischen Nebengeräuschen wie Knistern und Knacksen) mit einer Wiedergabe der Welte-Klavierrolle von 1906 auf einem restaurierten Welte-Mignon-Flügel, per Mikrofon aufgenommen. Als drittes Beispiel die Welte-Klavierrolle von 1906, konvertiert in MIDI-Daten, wiedergegeben auf einem Yamaha-Diskflügel: Die künstlerische Interpretation wird in allen drei Fällen nahezu identisch wiedergegeben. Dies ist umso erstaunlicher, als es sich um zwei unterschiedliche Grundaufnahmen handelt. Sowohl die Aufnahme auf einem Welte-Mignon-Flügel als auch die Digitalisierung der Klavierrolle und Wiedergabe per Disklavier-Flügel erfolgt demnach mit einer erstaunlichen Authentizität, nachzuhören und -sehen im Video.

Weitere Klangbeispiele, die im Video zu hören sind: Theodor Leschetizky interpretiert 1906 seine Komposition „Die zwei Lerchen“, Vladimir Horowitz spielt das Prélude op. 32 Nr. 12 von Sergei Rachmaninoff und Josef Lhévinne 1927 „An der schönen blauen Donau“ von Adolf Schulz-Evler/Johann Strauss.

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