Überall Verfall. Deutschland kommt nicht aus dem tiefen Jammertal der Pisa-Studien heraus, die Jugend verliert Werte, Ziele und Kultur. Einerseits. Andererseits wird dagegen von offizieller Seite nicht viel mehr getan, außer das Lamento immer wieder zu wiederholen. Vor ein paar Monaten fand in München im Prinzregententheater ein Symposium zur Bedeutung des Musikunterrichts in den Schulen statt, mit der Quintessenz, dass der zwar ständig abnehme, aber eigentlich immer wichtiger werde. Das beste Argument dafür lieferte ein Personal-Chef einer Münchner Bank: Angesichts der mangelnden Qualität der Berufsschulen bringe man den Auszubildenden am besten selber bei, was sie fachlich können müssten. Nur eines könnte sein Geldinstitut nicht leisten: Denken lehren. Deshalb sei ihm jeder Bewerber lieb, der eine musische Ausbildung genossen habe, denn die ließe offene Sinne und ein waches Hirn erwarten. Der Gedanke an einen möglichen Mehrwert auf dem Arbeitsmarkt dürfte allerdings kaum eine Rolle gespielt haben, als sich vor 15 Jahren in München ein paar Musiker zusammen taten, um das Projekt „Musik zum Anfassen“ zu gründen. Die Idee der Musiker, die sonst in Neue-Musik-Ensembles wie piano possibile zugange sind, war, in die Schulen zu gehen und dort Kinder zu erreichen, die bislang kaum mit Musik in Berührung gekommen sind. „Musik zum Anfassen“ will Kinder der dritten bis siebten Jahrgangsstufe wach machen, bei ihnen Lust an Wahrnehmung wecken. Die Projekte in den Schulen beginnen mit einer Schule des Hörens, mit ersten Versuchen, Geräusche und Klänge aufzuschreiben und zu reproduzieren. Doch die Kinder sollen nicht nur konsumieren, sondern zum aktiven Musikmachen angeregt werden. Dazu basteln sie aus Alltagsgegenständen Instrumente, entwerfen ein Fantasieland und die zu diesem passende Musik und studieren diese schließlich zusammen mit den Musikern ein. Denn „Musik zum Anfassen“ verlässt einmal im Jahr den Klassenraum und präsentiert die Arbeit der Kinder im öffentlichen Konzert.
Ende Januar wurde dann in der Münchner Muffathalle unter anderem die Frage beantwortet, wie ein Bauernhof klingt: „Kikeriki. Halleluja. Amen.“ Kinder haben offensichtlich ein feines Gespür für den bayerisch-ländlichen Katholizismus. Der Bauernhof ist auch auf einer Collage zu sehen, die die Schüler der dritten Klasse der Nymphenburger Grundschule gebastelt haben. Viel toller aber ist der klangliche Eindruck, bewerkstelligt mit einer Anzahl pneumatischer Verrichtungen. Die Hauptschüler von der Führichstraße beschäftigen sich dagegen mit dem, was ihnen vertraut ist: Breakdance über einem rhythmischen Teppich, von den Profis angereichert mit Gitarre, Schlagzeug und Klarinette. Die Herstellung einer Musik, die die meisten ihrer Altersgenossen nur als aseptische Industrieware konsumieren können, macht den jungen Jugendlichen sichtlich Spaß.
Zwischen den vier Stücken, die die Kinder erarbeitet haben und zu denen sie teilweise auch das Publikum zum Mitmachen einladen, spielen die fünf Musiker Kompositionen von Michael Bauer. Mal erweisen sich da die Avantgardisten als echte Tschuschen-Kapelle, mal unterlegen sie pantomimische Filme mit gestisch-melodiösen Floskeln. Auch ein Vorgang, den „Musik zum Anfassen“ in den Schulen übt: Wie verändert sich visuelle Wahrnehmung unter dem Einfluss von Musik?
Die Initiative kann nicht den traditionellen Musikunterricht ersetzen. Aber sie kann ihn erweitern, mit Sinnlichkeit und echtem Erleben füllen. Mit dem Erleben eines Sturms, der allein mittels Papier-Rascheln entsteht, mit dem Erleben von Alltagsdingen. Zwar müssen manche Eltern nun wohl fürchten, dass ihr Nachwuchs die Küche plündert, um die wohlklingenden Kochutensilien einem anderen Zweck zuzuführen. Doch das ist freilich eine aktive Unternehmung der Kreativität.