Im Potsdamer Nikolaisaal fand am 13. und 14. November 2015 unter dem Titel „Einfach hören!?“ ein interdisziplinäres Symposion mit Vorträgen, Werkstätten und Konzerten rund um das Thema „Musikhören“ statt, das sich explizit nicht nur an ein Fachpublikum von Musikwissenschaftlern, Konzertveranstaltern und Musikvermittlern richtete. Eingeladen waren Experten wie Musikliebhaber jeglicher Profession und Provenienz, sich aus verschiedensten Perspektiven über die Zukunft des Musikhörens auszutauschen sowie gemeinsam Erfahrungen zu machen und zu reflektieren.
Musikhören ist eine ästhetische Erfahrung. Sind musikalische Hörerfahrungen in erster Linie sinnliche Erlebnisse oder Ereignisse, die unmittelbar, gewissermaßen ungefiltert und im Wesentlichen emotional gemacht werden? Oder benötigen Musikhörer – insbesondere klassischer Konzertmusik – heutzutage zunehmend ästhetische Hilfsmittel, die, unter dem Stichwort „Hörvermittlung“ zusammengefasst, Konzertbesuchern zum Teil mit technischen Medien musikalische Zugänge erleichtern? Hängt die Erlebnisqualität musikalischer Hörerfahrungen womöglich sogar wesentlich von kognitivem Wissen über die gehörte Musik, den historischen Entstehungshintergrund, ihren strukturellen Verlauf und Aufführungskontext ab?
Diese und viele andere, zum Teil recht alte Fragen „rund um das Musikhören“ wurden in Potsdam in Vorträgen, Werkstätten und Konzerten neu aufgeworfen und verhandelt. Veranstalter war zum einen die Professur für Musikwissenschaft der Universität Potsdam, namentlich Christian Thorau, der die Tagung mit seinem Team vorbildlich leitete und sich als international renommierter Wissenschaftler auf dem Gebiet der Musikhörforschung etabliert hat.
Der Nikolaisaal Potsdam lud als Gastgeber nicht nur in seine angenehmen Räumlichkeiten ein, sondern war (in Kooperation mit dem netzwerk junge ohren) auch fachlich für die Veranstaltung prädestiniert. Der im Jahr 2000 neu eröffnete Nikolaisaal mit seinem sich in die historische Hinterhofarchitektur der Potsdamer Garnisonsstadt schlängelnden Konzertsaal wird als zentraler Konzertraum der Landeshauptstadt für Musikveranstaltungen jeder Art genutzt und ist Spielstätte mehrerer Klangkörper. Darüber hinaus hat das Haus mit seinem fest im Programm verankerten Schwerpunkt „Hörvermittlung“ in den letzten Jahren wichtige innovative und überregional beachtete Impulse für die Konzertpädagogik und Musikvermittlung sowie für Programmkonzepte anderer Konzerthäuser geliefert. „Hörvermittlung“ – ein aus dem Wort „Musikvermittlung“ abgeleiteter Neologismus – meint in Potsdam gleich eine ganze Palette von Formaten, die allesamt auf das bewusste Musikhören ausgerichtet sind: das OHRPHON, ein speziell für das Haus entwickelter Audioguide, der auch auf der Tagung mehrfach und durchaus kritisch im Mittelpunkt stand; sogenannte Hörclubs für Hörsessions und Partiturstudien und nicht zuletzt begleitende Veranstaltungen für Taube und Hörbehinderte, die auf der Tagung unter dem Stichwort „Barrierefreies Musikhören“ vorgestellt und diskutiert wurden.
Dritter Veranstalter war schließlich die am Nikolaisaal beheimatete Kammerakademie Potsdam, die als Orches-ter das Hörvermittlungsprogramm vor Ort umsetzt und im Tagungsprogramm zu Konzerten und Proben einlud, in denen die Teilnehmer des Symposions das OHRPHON ausprobieren und sich selbst als Live-Moderatoren versuchen konnten.
Der erste Tag stand ganz im Zeichen der ORPHON-Moderation. Der Audioguide funktioniert im Prinzip ähnlich wie bekannte Geräte in musealen Ausstellungskontexten. Wesentlicher Unterschied ist jedoch, dass Ausstellungs-Audioguides je nach Tempo und Weg individuell einsetzbar sind, während der Konzert-Audioguide aufgrund der Tatsache, dass Musik sich in Echtzeit ereignet, synchron dazu eine Live-Moderation überträgt, die zwar ausgeschaltet, aber nicht angehalten werden kann. Damit entsteht ein grundsätzliches Dilemma: Das Medium konkurriert für manchen Geschmack auf empfindliche Weise mit seinem eigenen Gegenstand, den es doch eigentlich als ästhetisches Hörobjekt vermitteln will. Denn Kommentar und Musik erklingen gleichzeitig und können folglich auch nur synchron gehört werden. Musikmoderation als auditive Verständnishilfe ist daher per se leider immer auch Störfaktor des eigenen Vermittlungsprozesses.
Trotz dieser systemisch bedingten Nachteile des Konzert-Audioguides – der in Potsdam übrigens, um das skizzierte Problem abzumildern, mit Respekt vor der Musik wie dem Konzertereignis, nur in öffentlichen Proben eingesetzt wird – ergeben die ersten Evaluationen von Nutzerrückmeldungen (vorgestellt von Juliane Niemeyer und Hendrikje van der Meer) mehrheitlich positive Resonanzen. Insgesamt kann das OHRPHON jedenfalls als ein das Musik- und Konzertleben bereicherndes Angebot bewertet werden. Wohl weniger attraktiv für musikalisch gebildete Kenner und Puristen, kann es doch vielen Menschen musikalische Kenntnisse an die Hand geben, die den Hörgenuss intensivieren.
Der zweite Tag des Kongresses widmete sich der Reflexion von „Formen des Musikhörens in Wissenschaft und Praxis“. Im Einführungsvortrag über die „Geschichte des geführten Hörens“ zeigte Christian Thorau, dass sogenannte „Listening Guides“ in verschiedenster medialer Erscheinung bereits auf eine nennenswerte historische Tradition zurückblicken können; andererseits, dass der (unter anderem von Adorno auf die Spitze getriebene) Idealtypus des dem Strukturverlauf der Musik stets aufmerksam folgenden „Musikverstehers“ erst eine historisch vergleichsweise junge Erscheinung seit dem 19. Jahrhundert ist und zudem eine kulturelle Besonderheit der ausschließlich abendländisch geprägten Musiktradition darstellt.
In einer regelrechten Tour de Force stellten anschließend zwölf Experten der Hörforschung und Hörförderung in jeweils 15–30 minütigen Slots schlaglichtartig Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Studien vor beziehungsweise boten Einblicke in ihre praktische Arbeit. Einmal mehr wurde deutlich, wie aspektreich und vielschichtig der Themenkomplex „Musikhören“ insgesamt ist und dass es äußerst ergiebig und lohnenswert ist, sich mit dem Thema differenziert auseinanderzusetzen.
Das thematische Spektrum reichte von beeindruckend echt klingenden, synthetisch generierten Musikeinspielungen (Reinhard Kopiez), über die klassische Gehörbildung (Anna Wolf, Arvid Ong) und den ästhetisch höchst eindrucksvollen, geradezu tänzerisch anmutenden Versuch, Schuberts Winterreise während der musikalischen Darbietung in Gebärdensprache zu übersetzen (Laura Schwengber), bis hin zu sehr unterschiedlichen Vermittlungskonzepten der experimentellen Musik (Burkhard Friedrich), der Klangkunst (Jens Schmid) sowie der Konzertpädagogik (Anne Kussmaul, Isabel Stegner).
Noch scheinen Hörforschung und Hörvermittlung eher in den Kinderschuhen zu stecken. Die leider etwas chaotische Schlussdiskussion brachte dies vielleicht unfreiwillig zum Ausdruck. Das Potsdamer Symposion mag dennoch ein Auftakt sein, sich mit der Materie aus verschiedensten Wissenschafts- und Praxisperspektiven weitergehend zu beschäftigen. Dass nicht nur das Musikhören, sondern das Hören insgesamt in den letzten Jahren zunehmend medial wahrgenommen wird, kann hoffentlich Anlass dazu geben, damit auch getrost rechnen zu können.