„Spiele einen Ton, aber nur dann, wenn du das Gefühl hast, es lohnt sich damit die Stille zu brechen“ –, so lautet László Sárys Aufforderung in einer seiner „kreativen musikalischen Übungen“. Es gehört viel dazu, dies auch tun zu können: das Gefühl für Klang und Stille zu haben. Sáry zeichnet dazu einen neuartigen, aber bereits mehrfach erprobten Weg. Einen Weg, der nicht nur für die Musikpädagogik neue Perspektiven eröffnet, sondern auch Berufsmusiker in ihrer künstlerischen Tätigkeit um unzählige hilfreiche Erfahrungen bereichert.
Auch vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Klagen aus den Reihen der Musikpädagogen, der Jugend fehle der „Zugang zur Musik“, verdient Sárys Vorgehensweise besondere Aufmerksamkeit. Er stellt nämlich die Frage, was „Musik“ heutzutage eigentlich bedeutet. Ob der vorwiegend auf klassisch-romantischen Mustern basierende Musikunterricht der alltäglichen musikalischen Umwelt heute überhaupt noch gerecht werden kann? Nach Auffassung Sárys eindeutig nicht. Der Weg zum unvoreingenommenen Zugang zu musikalischen Vorgängen – wobei auch die Neue Musik ganz und gar keinen Fremdkörper mehr darstellt – fängt mit einer Neudefinition der Musik selbst an.
Die „kreativen musikalischen Übungen“ resultieren aus Sárys Erfahrungen als Komponist, als Interpret Neuer Musik, als Lehrer (seit 1990 ist er Professor an der Hochschule für Theater in Budapest) und als musikalischer Direktor des Budapester Katona József Theaters. In den Siebzigern gründete László Sáry (Jahrgang 1940) zusammen mit Zoltán Jeney, Péter Eötvös und anderen die Gruppe „Studio für Neue Musik Budapest“, die neben Kompositionen der Mitglieder auch viele (Erst-)Aufführungen zum Beispiel von Werken John Cages und Steve Reichs durchführte. Als Komponist vereint Sáry die tiefe Auslotung von Klangeigenschaften mit einer sehr „ungarischen“, spontanen Musikalität. Aus der Verflechtung seiner Tätigkeitsfelder resultiert eine Art „Universalmethode“ mit sehr flexiblen Einsatzmöglichkeiten. Als Lehrer erprobte er die unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade seiner Übungen mit Kindern und Jugendlichen, mit Erwachsenen: „Nicht-Musiker“ und Berufsmusiker.
Im Sinne der von Sáry geforderten Hinterfragung der fertig tradierten und gelernten Muster in unserem westlichen musikalischen Denken wird – auch unter Zuhilfenahme fernöstlicher Philosophie – die Originalität einer Komposition vom niedergeschriebenen Notentext in die Einmaligkeit jedes einzelnen Vortrags als „gesteuerter Prozess des Zufalls“ verlagert. Der Begriff „Instrument“ wird durch eine Vielzahl von Klang- und auch Geräusch-Quellen erweitert und der Interpret zum konstruktiven Mitgestalter der momentanen Erscheinungsform einer Komposition. Aus der Einzigartigkeit des Klangs resultierend wird Musik als Klang-Prozess definiert. Der Klang, beziehungsweise dessen fünf Komponenten – Tonhöhe, Dauer, Stärke, Farbe und Stille zwischen den Klängen –, werden zum Ausgangspunkt neuen musikalischen Schaffens – und auch der Übungen.
Viele Übungen der „Sáry-Methode“ trainieren das Gefühl für Klang und Stille. Folgende Übung, die Sáry auch „Klang-Yoga“ nennt, spiele ich oft in unterschiedlichen Varianten: „Wähle einen Ton, spiele ihn oft, aber jedes neue Erklingen soll sich von den dahinterliegenden auf eine bestimmte Art (ausgewiesen durch die fünf Komponenten) unterscheiden!“ Die Aufgabe kann alleine oder in der Gruppe mit beliebigen Klangquellen, zum Beispiel Steinen, mit der eigenen Stimme oder an einem Instrument ausgeführt werden. Mit dieser Übung könnten beispielsweise auch Musiker im Orchester vor Proben und Konzerten den notwendigen Zustand der „Bereitschaft“ herstellen, berichtet Sáry, und die Erfahrung zeigt: Nach derartigen Übungen spielt man auch Werke des traditionellen Repertoires viel differenzierter, farbiger und insgesamt sensibler.
Generell sollen die Übungen auch das Gedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit trainieren sowie das gemeinsame Musizieren und die Improvisationsfähigkeit. Auf der Grundlage der „musikalischen Gesellschaftsspiele“, die sozusagen die Elementarstufe der Übungen darstellen, erwachsen Sárys komplexe „Vortragsstücke“ für Ensembles als offene musikalische Formen mit vom Komponisten festgelegten Spielregeln („Aktionsplänen“). Den Vortragsstücken wird oft ein einfaches Schema zu Grunde gelegt, das aber durch Wiederholungen, Varianten oder ständig neue Besetzungen aufgefächert wird. Durch die Anwendung der Aleatorik entstehen unerwartete Klang- und Rhythmuskombinationen, Überraschungseffekte und immer wieder neue Spielsituationen. Die entfernt mit Steve Reichs „Clapping Music“ verwandte „Musik für Klangstäbe“ zum Beispiel wurde für drei oder vier Spieler beziehungsweise Stimmen geschrieben. Aber während bei Reich das durchweg ausgezählte Rhythmus-Material stets in derselben Form erklingt, verändert sich die innere Organisation des Klang-Prozesses bei Sáry kaleidoskopartig als Folge von Zufallsoperationen, das heißt als Folge selbständiger Entscheidungen der Spieler. Die „Text-Musiken“ wiederum stehen in engem Zusammenhang mit Sárys Arbeit im Theater und sind aus den Möglichkeiten des Rhythmus und der Artikulation abgeleitet, die in Texten verborgen sind. Als Vortrags-Stücke im Konzert sind diese Spiele auch spannend zum Zuhören und Zuschauen. Allerdings ist dem passiven Zuhören eher die aktive Beteiligung vorzuziehen. Doch auch die Devise „Hör zu!“ – die erste der Sáry-Übungen – meint einen hellwachen Zustand der Offenheit, selbst in die Stille hineinzuhorchen. Die „kreativen musikalischen Übungen“ sind als Buch erschienen, bislang allerdings nur in ungarischer und englischer Sprache (Creative Music Activities, Jelenkor Verlag, Pécs/Ungarn 1999).