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Foto: Philipp Ahner
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Musik muss Kernfach werden

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Menschenbildung statt Zweckorientierung
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Nach Platon ist „die musische Kunst bei der Erziehung am wichtigsten: weil Rhythmus und Tonart am tiefsten in das Innere der Seele dringen“. (Politeia, ca. 370 v.Chr.) Musikunterricht steht auf den Lehrplänen unserer Schulen – aber das muss nichts heißen. An deutschen Grundschulen fallen bis zu 80 Prozent der Musikstunden aus. Wenn Geld fehlt, wenn Räume fehlen, wenn Personal fehlt, dann sparen die Schulen zuerst bei der Musik. Hauptsache, dass Mathematik, die Sprachen, die Naturwissenschaften gelehrt werden – das, was die Schüler später im Leben angeblich wirklich brauchen.

Wer später professionell Musik machen will, muss das ohnehin außerhalb der Schule lernen. Für alle anderen bleibt Musik ein hübsches Tralala, aber karrieretechnisch unnütz – so der allgemeine Konsens. Auch die Programme der Volkshochschulen geben kein anderes Bild. Zur Bildenden Kunst werden dort immerhin Museumsführungen und kunstgeschichtliche Vorträge angeboten. Zum Thema Musik dagegen: „Wir bauen uns ein Didgeridoo“. Wie gesagt: ein hübsches Tralala – und ein bisschen Bastelei.

Nichts könnte verkehrter sein. Das Musikalische ist eine Kernkompetenz menschlicher Selbsterfahrung und Kommunikation. Wir haben Gene in uns speziell für die Musik. Unsere Gehirnfunktionen sind auf musikalische Erfahrungen zugeschnitten. Für Musik müssten in den Schulen daher nicht eine oder zwei Wochenstunden reserviert sein, sondern Raum in jedem Schulfach. Die positiven Transfereffekte von Musik dürften selbst Nützlichkeits-Fetischisten und PISA-Jünger überzeugen. Wie wir aus der Hirnforschung wissen, fördert Musik die sprachlichen Fähigkeiten. Wir entschlüsseln sprachliche Grammatik und musikalische Struktur mit demselben Hirnareal. In musikalischen Mustern steckt aber auch die Mathematik – das wussten schon die alten Pythagoreer. Es waren die Töne, aus denen die frühen Philosophen schlossen, dass die physische Welt mathematischen Gesetzen gehorcht. Musik lieferte die Begründung aller Naturwissenschaft. Und auch was den Geschichtsunterricht angeht: Kann es ein besseres Paradigma geben als die Musikgeschichte?

Noch wichtiger als die Transfereffekte für andere Fächer ist aber, was Musik für die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler leisten kann. Eine gelungene Heranführung an Musik eröffnet jungen Menschen eine (lebenslange) Quelle von Lust und Wohlgefühl – damit übrigens auch eine legale Alternative zu Drogen. Die geführte Beschäftigung mit Musik stärkt Gedächtnis und Lernfähigkeit, wirkt gegen Frustrationen und Ängste, weckt Fantasie und Kreativität, fördert physische Abwehrkräfte und Leistungsfähigkeit, erleichtert Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis. All die positiven Wirkungen, die in Musiktherapien beob­achtet werden, stehen dem Musikunterricht grundsätzlich zur Verfügung.

Als einem Ventil oder Ableiter für Gefühle fällt der Musik gerade in der Pubertät eine zentrale Rolle in der psychischen Entwicklung zu. Hier kann der Musikunterricht für die emotionale Orientierung der Schülerinnen und Schüler entscheidende Weichen stellen. Musik steht den Gefühlen näher als die Sprache. Die Konfrontation mit Musik schult aber nicht nur die Selbstwahrnehmung, sondern auch das differenzierte Erkennen von Strukturen und fördert damit eine sinnliche, vielleicht sogar lustvolle Erfahrung von Komplexität. Das ist sicherlich eine bessere Vorbereitung auf zukünftige Lebenskonstellationen als etwa eine Mathematikaufgabe. Wenn das humanistische Ideal einer allseitig entwickelten, lebenslang lernenden Persönlichkeit heute noch irgendeine Berechtigung hat, muss Musikunterricht dabei eine tragende Rolle spielen.

Neben der Emanzipation des Einzelnen kann auch die Gruppenerfahrung durch das Musikerlebnis nur gewinnen. Musik stärkt den Zusammenhalt, ermuntert Kooperation, fördert die Gemeinschaft. Das musikalische Erlebnis, die stärkste Waffe der Völkerverständigung, kann Grundlage aller Konfliktlösungen in der Schulklasse sein. Musik selbst wird ja schon als sozialer Akt erfahren, als Kommunikation zwischen Musikern, zwischen Musik und Hörern, nicht zuletzt zwischen den Hörern untereinander. Wenn es ein Ziel unserer Schulen ist, sozial verantwortliche, tolerante, zukunftsfreudige, teamstarke Menschen zu bilden, geht das nicht ohne die Hilfe der Musik.

Natürlich kann der Musikunterricht an den Schulen keine individuelle Ins­trumentalausbildung leisten. Er kann jedoch alle Schülerinnen und Schüler an die Musik heranführen, und das in vielfältiger Weise. Dazu gehören das Kennenlernen von Werken der Musikgeschichte, der Besuch von Konzerten, die Begegnung mit Musikern, die praktische Erfahrung an Instrumenten, die Grundlagen der Musiktheorie, die Schulung der bewussten Rezeptionsfähigkeit, der Erwerb musikhistorischen Grundwissens, das Sprechen über Musikerfahrung und die eigenen Emotionen dabei und selbstverständlich auch das praktische Musikexperiment – vom kindlichen Singspiel über die Erkundung von Metrik durch rhythmische Bewegung bis hin zur intuitiven oder geführten Improvisation.

Musikhören als kreativer Akt ist ein wichtiger Schritt zu kultureller Teilhabe und sozialer Dynamik. Das Internet schafft Konsumenten, Musikunterricht schafft Hörer. Die Schule hat hier auch die Aufgabe, gegen ein rein rationales, ökonomistisches Wissen und Denken einen spielerischen, alternativen Freiraum zu setzen, eine Schutzzone der Gefühle, des Intimen und „Unnützen“. Musik sollte in jedes Schulfach hineinspielen, möglichst ohne Leistungsdruck und Schulnoten. In diesem übergreifenden, vernetzenden Sinn muss Musik „Kernfach“ an allen Schulen sein. Auf keinen Fall darf Schule die Musik aussperren. Das wäre ja in etwa so, als müssten Kurzsichtige beim Betreten der Schule ihre Brille abgeben. Schule ohne Musik schafft Handicaps.

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